Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
bereits ein Schock gewesen – jedoch nichts verglichen mit dem Tag, als die ersten Verwundeten eintrafen: Helène war sich sicher, nie wieder den Anblick des Soldaten zu vergessen, der sie aus Augen ohne Lidern ansah. »Senfgas«, sagte einer der Ärzte zu ihr, »erst verätzt es den Körper von außen, dann von innen.« Helène hatte dem jungen Mann auf der Bahre aufmunternd zugelächelt und seine Hand gehalten. Als er dann ins Haus getragen wurde, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Arzt, ein junger Österreicher, reichte ihr ein Taschentuch und sagte: »So ist es jedem von uns anfangs ergangen, gnädige Frau. Würden Sie nicht weinen, wären Sie ein Übermensch – oder gar kein Mensch.«
Jetzt, vier Wochen später, war sie sicher, dass sie sich niemals daran gewöhnen würde. Aber sie ertrug es. Es war später Abend, erschöpft lehnte sie am Rahmen der Küchentür und kämpfte gegen die Müdigkeit. Reiß dich zusammen, sagte sie halblaut zu sich selbst. Ein Räuspern in ihrem Rücken ließ sie aufschrecken. Sie wandte sich um und sah in das bleiche Gesicht des jungen Österreichers. »Doktor Antosch!«, sagte sie, »Sie kommen im richtigen Augenblick, danke. Fast wäre ich im Stehen eingeschlafen …«
»Dafür sollten Sie sich nicht bedanken, gnädige Frau«, erwiderte er, »ich hätte Sie schlafen lassen sollen. Wenn Sie erst völlig entkräftet sind, können Sie niemandem mehr helfen. Jeder braucht Schlaf, Sie und ich.«
»Sie?«, sagte Helène und lächelte, »wann haben Sie denn zuletzt ein Auge zugetan?« Sie mochte den jungen Mann, der unermüdlich seine Arbeit verrichtete. In den Anfangstagen hatte sie sich gefragt, ob die Ärzte und Schwestern überhaupt noch Mitleid empfanden, wenn sie beobachtete, wie diese scheinbar ungerührt mit den Patienten umgingen. Schnell hatte sie jedoch gemerkt, dass es nicht darum ging, Mitleid zu zeigen, sondern den Verwundeten mit Erfahrung und Sachverstand zu helfen. Sie hatte beobachtet, wie bei manchen Verwundeten schon nach kurzer Zeit der Lebenswille zurückkehrte, wie sie unter Schmerzen zu lächeln versuchten oder eine Hand ausstreckten, wenn ihre Lieblingsschwester an ihrem Bett vorüberging. Es berührte sie zu sehen, wie die jungen Frauen auch mit den entstelltesten Schwerverletzten scherzten und flirteten, als wären sie ganz normale junge Männer.
»Ich bewundere Sie und Ihre Kollegen zutiefst«, sagte Helène. »Ich erlebe hier Menschen, die so anders sind als alle, denen ich zuvor begegnet bin, dass ich dafür dankbar bin.« Als sie seinen erstaunten Blick sah, fügte sie schnell hinzu: »Nicht dankbar für diesen furchtbaren Krieg, um Himmels willen! Aber dankbar für diese Erfahrung.«
»Sie unterschätzen sich, gnädige Frau«, sagte der Arzt. »Wir sind daran gewöhnt, mit Menschen in extremen Situationen umzugehen, mit ihrem Leid und auch mit ihrem Tod. Sie hingegen erleben das zum ersten Mal. Sind Sie in diesem Haus geboren?«
»Geboren nicht, aber aufgewachsen. Es gehörte meinen Eltern, jetzt gehört es mir. Meine Familie und ich haben viele Jahre lang hier die Sommer verbracht.«
»Wo lebt Ihre Familie, wenn Sie mir die indiskrete Frage gestatten?«
Helène lächelte. »Diese Österreicher!«, sagte sie. »Ich hätte gern mehr von Ihnen unter meinen Freunden! Sie haben so etwas beruhigend Höfliches, was auch geschieht: Sie behalten die Contenance. Wir leben in Berlin, mein Mann, meine vier Kinder und ich.«
»Sie sind Deutsche?«
»Eingedeutscht, ja. Aber in meinem Pass bin ich Französin. Derzeit ist die Familie in alle Winde verstreut: Mein Mann weilt in Afrika, er ist in der Kolonialverwaltung. Wir haben seit Monaten kein Lebenszeichen von ihm erhalten, aber ich bin sicher, dass er irgendwo warm und trocken überwintert. Er findet immerWege, das Beste aus einer Situation zu machen. Meine Tochter ist bei den beiden Jüngsten in Berlin. Ich bin seit Kriegsbeginn fast ohne Unterbrechung hier. Es ist viel geschehen, erst starb mein Vater, bald darauf meine Mutter, dann eroberten die Franzosen unser Dorf, schließlich wieder die Deutschen …«
Sie schwiegen eine Weile. »Einer fehlt noch«, setzte der Arzt das Gespräch fort, »Sie erwähnten sechs Personen, wenn ich richtig gezählt habe …«
Helène wandte sich ab, ging langsam zu einem Küchenstuhl, setzte sich und stützte ihren Kopf in die Hände. »Ja, einer fehlt noch. Er hat viel mit Ihnen gemeinsam. Sie sind ein wenig älter als er, aber manches an Ihnen
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