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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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Kamerad? Ich meine, bevor das Gas in deine Augen kam?«
    Wilhelm überlegte. »Krater«, sagte er dann. »Überall Krater. Manche so tief, dass man nicht wieder rauskam. In einigen lagen unsere Kameraden, in anderen Franzosen. Sie sahen aus, als schliefen sie. Sie haben vom Gas nichts mehr gespürt.«
    Die beiden Soldaten sahen Wilhelm an. Sie saßen auf Holzpritschen in einem der Waggons des Verletztentransports auf der Fahrt nach Berlin. Vor acht Stunden waren sie in Straßburg abgefahren. Immer wieder hielt der Zug auf freier Strecke, jetzt standen sie seit drei Stunden irgendwo im Ruhrgebiet.
    »Ich geh mal gucken, was draußen los ist. Wir stehen hier schon ewig lange. Kommst du mit?« Er tippte Wilhelm an.
    »Wie soll er denn gucken mit seinem Verband?«
    »Ja«, entgegnete Wilhelm, »ich komme. Ich fühl’ mich steif wie ein Brett. Ein bisschen die Beine vertreten kann nicht schaden.«
    Vor den Waggons standen Dutzende Verwundete und rauchten, manche hatten sich ins Gras gesetzt. Die Lokomotive schnaubte und stieß eine Rauchwolke aus. »Gut, dass unsere Wagen weit hinten sind, da hat man nicht den Gestank im Abteil«, sagte der Soldat. »Die vorn kriegen das sowieso nicht mit. Arme Schweine.«
    »Wieso?«, fragte Wilhelm.
    »Da liegen die Korbmenschen! Die sind so voll Morphium, dass sie nichts mehr riechen.«
    »Die ohne Arme und Beine?«
    »Ja, genau, die in Körben getragen werden.«
    Ein Soldat gesellte sich zu ihnen, er trug ebenfalls einen Verband um den Kopf, die Augen waren frei. »Ich sehe, du kannst nichts sehen«, sagte er zu Wilhelm. »Die Experten streiten ja darüber, was unangenehmer ist: Nichts hören oder nichts sehen. Ich kann nichts hören. Keine Ohren mehr.«
    Er grinste. »Eigentlich gar nicht so schlecht, das Geschrei der Gören zu Hause stört mich in Zukunft nicht mehr. Habt ihr ’ne Zigarette? Ich kann den Rauch jetzt aus den Stellen blasen, wo mal die Ohren saßen. Wenn ihr wollt, zeig’ ich es euch.«
    »Haben wir.« Der Soldat nickte und gab ihm eine Zigarette, zu Wilhelm gewandt sagte er: »Da gibt es welche, die können noch ganz andere Sachen. Bei denen fehlen nicht nur die Ohren. Ganz vorn im Zug sind welche, ich hab’ gesehen, wie sie reingetragen wurden.«
    »Und?«, fragte Wilhelm.
    »Sie kommen in Geheimlazarette, wo niemand sie jemals wieder sieht. Denkmäler des Schreckens – so hat ein Sanitäter sie genannt.«
    Der Zug ruckte an, blieb wieder stehen, ruckte erneut. Dann pfiff die Lokomotive. Die Männer erhoben sich vom Bahndamm, der Gehörlose ging ein Stück neben Wilhelm auf dem Weg zu seinem Abteil. »Eines hätte ich schon noch gern gehört«, sagte er, »das Krüppelorchester.«
    »Was?«, fragte der Soldat. »Red nicht solche Sachen, das mag ich nicht.«
    »Er hört dich nicht«, sagte Wilhelm.
    »Mein Schwager aus Wien hat mir geschrieben«, fuhr der Gehörlose unbeirrt fort, »dass das Krüppelorchester dort bei der Kriegsausstellung aufgetreten ist. Vierzig Einarmige. Sie haben mit Prothesen gefiedelt und geblasen. Geht prima, schreibt mein Bruder. Und die Weiber liegen ihnen zu Füßen.« Der Mann lachte und bestieg sein Abteil. »Nicht verzagen!«, rief er. »Es geht auch ohne.«

W eltenretter
    » Jetzt gehörst du mir, Engel des Schlachtfelds «, presste er mit heiserer Stimme hervor. » Du bist mir in die Falle gegangen! « Adalbert hielt den Atem an, seine Finger waren feucht vor Anspannung und Erregung. Als er umblätterte, rutschte ihm das Buch aus der Hand und fiel auf den Boden des Klassenzimmers. Alle hörten es, aber niemand rührte sich. In der Geschichtsstunde von Dr. Sattelmaier stellte jede eigenmächtige Bewegung eine Gefahr dar, stillsitzen war oberstes Gebot, was auch immer geschah. Nur wenn der Oberstudienrat einen der Schüler mit seiner näselnden Stimme, die jeden Moment überzukippen drohte, beim Namen nannte, dann war man gut beraten, sich blitzartig zu erheben. Sollte er zusätzlich den Blick heben, so hatte man auf schnellstem Weg nach vorn an die Tafel zu eilen und strammzustehen, bis er mitzuteilen geruhte, auf welche Frage er eine Antwort verlangte.
    Trotz des unüberhörbaren Aufpralls des Buches war er diesmal jedoch weiterhin in seine Zeitungslektüre vertieft wie jeden Morgen, wenn er die erste Stunde unterrichten musste und Abschreibaufgaben verteilte, um in Ruhe die Nachrichten das Tages lesen zu können.
    Aber alle waren sich im Klaren darüber, dass es ihm nicht entgangen sein konnte. Dr. Sattelmaier bemerkte alles.

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