Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
Vom Netzwerk:
sah ihm forschend in die Augen. Als er sie zu sich heranzog, sank sie seufzend an seine Brust. »Wilhelm«, sagte sie leise, »warum so lange? Warum kommst du erst jetzt? Was ist mit deinem Arm? Warum ist deine Mutter hier …?« Er unterbrach sie, indem er seine Lippen auf ihre legte.
    Als sie sich voneinander lösten, strahlten lange, gelbe Sonnenstrahlen quer durch die Küche, als suchten sie nach Adèle und Wilhelm. Seine Hände umfassten ihr Gesicht. »Ich werde dir alles beantworten«, sagte er, »alle deine Fragen. Und du wirst mir erzählen, was hier vorgefallen ist, warum du so verändert aussiehst, warum dein Vater mir vorgelogen hat, du wärest in Verdun. Aber zuerst möchte ich, dass du weißt: All das ist unwichtig. Völlig unwichtig! Wenn du und ich es wollen, spielen all diese Dinge keine Rolle für uns. Ich für meinen Teil will es. Und du?«
    Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn lange an. »Ja, du bistes«, sagte sie dann leise, als würde sie ihn erst jetzt wirklich erkennen, »du bist immer noch der, auf den ich gewartet habe.« Dann drehte sie sich um, ging langsam auf die Treppe zu und streckte eine Hand nach hinten zu Wilhelm aus.
    *
    »Diesen Augenblick habe ich jeden Tag herbeigesehnt – jede Stunde, jede Minute«, sagte Adèle, als sie und Wilhelm auf dem Bett saßen, dem einzigen Möbelstück der winzigen Kammer, und sie ihre Nase an seine drückte. »Fünf Jahre lang habe ich darauf gewartet, sie wiederzusehen, die schönste Nase der Welt!«, sagte sie. »Sie ist so weich – man kann sie nach allen Seiten biegen, sieh mal!«, sagte sie und lachte laut, als sie mit zwei Fingern seine Nasenspitze hin und her bewegte und Wilhelm die Augen verdrehte, um den Bewegungen folgen zu können. »In deine Nase habe ich mich zuerst verliebt – damals«, sagte sie. »Aber da wusste ich es noch nicht, ich war noch viel zu jung dafür. Ich wusste nur, dass ich dich immer wiedersehen wollte. Die wenigen Wochen im Jahr, in denen du hier warst – für die habe ich gelebt. Wie oft habe ich von deiner Nase geträumt…!« Wieder lachte sie und lehnte sich gegen ihn. Wilhelm versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken, als Adèle dabei seinen verletzten Arm berührte. »Oh, verzeih!«, rief sie und gab seiner Schulter durch den Verband hindurch einen Kuss. »Du hast mir noch immer nicht erzählt, wie das passiert ist …«
    Wilhelm sah an Adèles Arbeitskleidung herunter, dann strich er über ihr kurzgeschnittenes Haar. »Erst du! Erzähl mir, warum du so verkleidet bist. Was ist hier los, was geschieht hier bei euch?«
    »Du kommst gerade aus den Kolonien«, antwortete sie, und das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie sah ihn nachdenklich an. »Jetzt bist du, ohne dass du es weißt, schon wieder in einer Kolonie – nur dass die Leute hier nicht schwarz sind. Aber sie werden nicht viel anders behandelt. Dass wir für die Deutschen die Froschfresser sind, daran haben wir uns gewöhnt. Es stimmt ja auch, wir mögen Frösche. Neuerdings nennen sieuns die Wackes. Dreckswackes sagen sie. Irgendwie haben sie herausgefunden, dass dies das schlimmste Schimpfwort ist bei uns. Es bedeutet feige, ehrlos, heimatlos. Wie sollen wir auch eine Heimat haben – sie haben sie uns genommen.«
    »Auch wenn euer Land von den Deutschen besetzt ist, bisher sind wir doch gut miteinander ausgekommen.«
    »Das haben sie sich eingebildet, die Deutschen, ja. Sie dachten, wir finden es gut, dass die Kinder in der Schule deutsch sprechen müssen, dass Familienaus ihren Häusernverjagt werden, damit Deutsche einziehen können, um dann in unseren Bergen ihre Wanderungen zu machen mit ihren komischen Kniebundhosen.« Sie lachte bitter auf: »Und euer geliebter Kaiser, der hat sich hier sogar ein Jagdschloss zugelegt. Er liebt die Vogesen, sagt er. Solange er nur keinen von uns zu sehen bekommt – die Dreckswackes sollen sich im Hintergrund halten.«
    Wilhelm blickte entsetzt in Adèles zorngerötetes Gesicht. Er hob zu einer Erwiderung an, doch Adèle legte ihm einen Finger auf den Mund. »Jede Nacht verhaften sie welche von uns, wusstest du das? Einfach so, das dürfen sie. Sie haben alle Gesetze außer Kraft gesetzt, es gibt kein Gericht. Die Menschen verschwinden in den Kellern der Kasernen. Mein Vater war auch dort, ein halbes Jahr lang.«
    »Und wieso ist er jetzt wieder hier?«
    »Das weiß er nicht, man hat es ihm nicht erklärt. Weder warum sie ihn verhaftet haben, noch warum er wieder gehen durfte. Vielleicht hatte

Weitere Kostenlose Bücher