Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
dicken Bauch, weißt du, und er hatte dichtes, schwarzes Haar. Was mir am meisten an ihm auffiel, war seine Stimme. Sie war sanft, nicht unbedingt leise, hatte aber nicht diesen Befehlston der meisten anderen Deutschen, die wir zu jener Zeit kennenzulernen die Ehre hatten. In seiner Stimme klang so eine Wehmut, ein Sehnen, ich weiß nicht, wonach. Er wirkte wie ein großer Junge, der Schutz suchte. Das war es wohl, worinich mich verliebte. Nun guck nicht so – ja, ich habe mich in einen Besatzer verliebt. Meine Eltern hatten glücklicherweise Verständnis. Und so konnten dein Vater und ich heiraten.«
Helène deutete auf den Platz neben sich. »Komm her«, sagte sie, und als Wilhelm neben ihr saß, legte sie eine Hand auf die seine. »Ich verstehe besser, als du glaubst, was das Mädchen für dich bedeutet. Deshalb habe ich dir diese Geschichte erzählt. Trotzdem ist es nicht dasselbe. Dein Vater war damals keiner anderen versprochen, und ich – ich gehörte nicht irgendeiner Untergrundbewegung an und musste mein Haar unter Männermützen verbergen. Ich kann dich nur inständig bitten: Vergiss sie, wenn wir in Berlin sind, vergiss Lagarde, vergiss all die Dinge, die dort vor sich gehen, sie haben mit unserem Leben nichts zu tun. Dein Leben hält anderes für dich bereit, und du hast es bereits akzeptiert. Du hast Charlotte das Eheversprechen gegeben, und sie ist verliebt in dich. Sie ist ein sehr nettes Mädchen. Und eure Heirat ist gut für beide Familien. Wenn dein Vater und ich nicht sicher gewesen wären, dass ihr glücklich miteinander sein könntet, hätten wir die Ehe nie arrangiert. Dafür wissen wir zu gut, was es heißt, verliebt zu sein. Auch wenn es eine Weile her ist …«
Sie zog Wilhelm zu sich heran. »Die Zeiten sind andere als damals, als dein Vater und ich uns kennenlernten. Und wenn dich das alles nicht überzeugt, dann denk daran: Du könntest zu einer Gefahr für das Mädchen werden, und das möchtest du doch sicher nicht.« Sie sah ihn ernst an. »Und jetzt gehe ich auf den Gang, damit du ungestört ihren Brief lesen kannst. Ich würde es begrüßen, wenn du ihn vernichtest hast, bevor wir Berlin erreichen.«
Als Helène zehn Minuten später wieder das Abteil betrat, sagte sie in heiterem Tonfall: »In einer Woche wird dein Vater aus Togo zurückkehren. Ich habe vor zwei Tagen einen Brief von ihm erhalten, in dem er mich bittet, ein Festessen mit den von Doerings vorzubereiten. Charlotte kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen. Deine Heldentaten haben sich herumgesprochen – sie himmelt dich an.«
Wilhelms Hand drückte die Mütze, die in seiner Hosentasche steckte.
4 . Berlin
Frauen
Elisabeth fühlte sich wie in Kindertagen, wenn sie befürchtete, von ihren Eltern ertappt zu werden. Zum Beispiel, wenn sie heimlich eines der Karl-May-Bücher las, die den Brüdern vorbehalten waren, oder wenn sie auf dem Heimweg von der Höheren-Töchter-Schule beim Bäcker an der Ecke für fünf Pfennige eine Punsch-Schnitte kaufte – »Sozi-Kuchen«, den sie liebte und der im Hause Schwemer nicht auf den Tisch kam. Jetzt, im Kreise der Frauen, die erwartungsvoll der Dinge harrten, die da kommen sollten, hatte sie natürlich nichts Derartiges zu befürchten, dennoch blickte sie sich hin und wieder vorsorglich um.
Eine Frau im weißen Kleid und mit weißem Strohhut saß vor dem Fenster im Erkerzimmer der geräumigen Wohnung, in der der Berliner Frauenverein sich einmal im Monat traf. Anita Augspurg sprach zu den Anwesenden über Unerhörtes – es trieb Elisabeth die Röte in die Wangen, dennoch wollte sie unbedingt mehr darüber erfahren: Das »Recht der Frau am eigenen Körper und der Anspruch auf eine eigene Sexualität« waren heute Thema der Vorsitzenden des »Verbandes der Frauenverbände in Deutschland«. Allein dieses Wort ließ Elisabeth erschauern – Sexualität …
Elisabeth hatte es ihrer besten Freundin Friderike von Wagenbach zu verdanken, dass sie hier war. Immer wieder hatte sie sie ermuntert, endlich einmal mitzukommen, jetzt hatte sie sich einen Ruck gegeben, und gleich beim ersten Mal stand eine Diskussion mit der prominentesten deutschen Frauenrechtlerin auf der Tagesordnung. Elisabeth bewunderte Friderike für die Selbstsicherheit und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich unter diesen Frauen bewegte – Frauen, die allesamt in offener Opposition zur vorherrschenden Meinung darüber standen, was und wie Frauen zu sein hatten.
Vor Beginn des Vortrags hatte man
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