Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sie sofort auf der Straße.«
Die Haushälterin nickte. »Am besten gehen Sie jetzt zu ihr.«
*
Als Elisabeth die Mädchenkammer betrat, erkannte sie zunächst gar nichts. Die Vorhänge des kleinen Raumes waren zugezogen, kein Licht eingeschaltet. Als sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, sah sie Luise auf ihrer Bettkante sitzen, kerzengerade, die Hände auf die Oberschenkel gelegt.
Elisabeth nahm den einzigen Stuhl, der neben dem kleinen Tischchen am Fenster stand, stellte ihn vor Luise und setzte sich darauf. »Schöner Mist!«, sagte sie.
Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen und blickte Elisabeth an.
»Ich weiß, so reden Herrschaften nicht. Ich kann dich beruhigen: Tun sie auch nicht. Normalerweise zumindest. Aber jetzt sage ich es: Schöner Mist.«
Sie hatte gehofft, die Situation damit ein wenig auflockern zu können, aber es gelang nicht. Sie betrachtete das blasse, schmale Gesicht eine Weile, dann fragte sie: »Wann ist es so weit?«
»Im Winter.«
»Weißt du es etwas genauer?«
»Im Dezember.«
»Ein Christkind«, lächelte Elisabeth. »Also bist du im zweiten Monat. Weißt du es genau?«
Luise nickte.
»Wer hat es dir gesagt?«
»Meine Schwester kennt da eine Frau, die weiß so etwas. Bei der war ich.«
»Was für eine Frau?«
»Na ja, so eine, die sich mit so etwas auskennt. Und die auch helfen kann. Sie hat in unserem Viertel schon vielen Mädchen geholfen. Und wenn man kein Geld hat, dann macht sie es auch so.«
»Willst du, dass sie dir auch hilft?«
Entschieden schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Weiß der Junge, von dem du das Kind bekommst, davon?«
»Es ist kein Junge.«
Elisabeth schwieg und sah auf ihre Hände.
»Meine Eltern wohnen im Wedding.«
Elisabeth nickte. Im Osten der Stadt lebten die Bedürftigsten Berlins, häufig mit mehreren Familien in einer Wohnung.
»Manchmal haben sie die Miete nicht, wenn am Monatsende der Vermieter kommt«, fuhr Luise fort.
»Da sind sie nicht die Einzigen, nicht wahr?« fragte Elisabeth.
Luise antwortete nicht.
»Und was machen sie dann?«
»Wie Sie schon sagen, Madame, sie sind nicht die Einzigen, die nicht zahlen können. Der Vermieter kann nicht alle auf einmal rauswerfen, er findet nicht so schnell neue Mieter. Nur manchmal tut er es eben doch, um ihnen Angst zu machen.«
»Und deine Eltern haben Angst?«
Luise nickte.
»Wie heißt der Vermieter?«
»Weiß nicht.«
»Irgendwann hast du ihn dann aber getroffen.«
Luise sah auf ihre Fußspitzen. »Zufällig«, sagte sie nach einer Weile. »Als ich meinen freien Donnerstagnachmittag hatte und von hier nach Hause kam. Da stieg er gerade die Treppen runter, als ich rauf wollte.«
»Und dann?«
Luise nickte bedächtig mit dem Kopf, als sähe sie die Szenegerade vor sich. »Er kennt mich. Er hatte mich lange nicht gesehen – ich bin ja auch meistens hier bei Ihnen –, und er sagte, wie groß und hübsch ich geworden bin. Er fragte, ob ich meinen Eltern nicht behilflich sein wollte bei der Lösung ihres Problems. Es käme schon manchmal vor, dass er dann ein Auge zudrückt mit der Miete.«
Elisabeth erhob sich, zog die Vorhänge zurück und sah in den Hintergarten hinaus, im dem die Krokusse dicht und bunt aus dem Rasen sprossen. Die Bilder des Nachmittags schoben sich davor, sie hörte wieder die Stimme der Referentin, fühlte, was sie im Kreis der Frauen empfunden hatte.
»Komm her zu mir«, sagte sie. Es dauerte eine Weile, bis sich Luise erhob und neben Elisabeth stellte. »Du hast Sophie davon erzählt, und das musstest du auch. Das hast du gut gemacht. Und die hat es mir erzählt. Ich werde ihr jetzt sagen, dass sie es keinem anderem erzählen darf. Wenn du es also für dich behältst, wird niemand sonst davon erfahren. Ich kenne Leute – Frauen –, die mit solchen Situationen Erfahrungen haben. Wir haben ja noch ein bisschen Zeit, bis man es dir ansieht. So lange behalten wir es für uns. Und in der Zwischenzeit lasse ich mir etwas einfallen. Jetzt geh runter und mach deine Arbeit. Die Herrschaften kehren in wenigen Tagen von ihren Reisen zurück. Sie sollen hier alles so vorfinden, wie sie es erwarten, und vor allem nichts von unserem Geheimnis erfahren. Ich verlasse mich auf dich. Und du kannst dich auf mich verlassen.«
Brüder
Überraschend kehrte Richard von Schwemer einen Tag vor seiner Frau und seinem Sohn nach Berlin zurück. Als Elisabeth am Nachmittag vom Unterricht in der Haushaltsfachschule zurückkehrte, sah sie seinen schwarzen Horch vor
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