Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Patienten. Und die meisten von ihnen sind auch nicht wirklich krank, sie wollen sich dort nur erholen. Für die Eingeborenen gibt es keine Kliniken.«
»Dann müssen wir das ändern.«
Wilhelm lächelte sie an. »Ja«, pflichtete er bei, »das müsste man.«
Das Stimmengewirr um sie herum erstarb, und die Gesichter wandten sich nach oben, wo der Zeremonienmeister in der Kaiserloge erschienen war. Das Rascheln der Kleider wehte wie ein Windstoß durch den Saal, als alle Anwesenden sich erhoben. Dann war es vollkommen still, von Hülsen klopfte dumpf mit seinem Stab auf den dicken Teppich, und die Kaiserin erschien. Applaus brandete auf, der sich steigerte, als hinter ihr die drei ältesten ihrer sieben Kinder die Loge betraten. Es folgten weitere Familienmitglieder, unter anderen die Kaisermutter Victoria. Sie alle stellten sich in einer Reihe auf und blickten erwartungsvoll zum Eingang der Loge.
Und dann kam er. Mit schnellen Schritten stieg er die Stufen herunter, die zu seinem Sessel führten, der ganz vorn an der Brüstung der Loge stand, seinen Helm hatte er unter den linken, den steifen Arm geklemmt, mit der rechten Hand winkte er kurz den jubelnden Menschen zu, bevor er Platz nahm. Erneut hörte man das Rauschen der Kleider, als sich die übrigen tausend Gäste setzten und ihre Blicke auf die Bühne richteten.
*
»Er hat dich begrüßt, und alle haben es gesehen!«, sagte Richard von Schwemer begeistert, als die Gesellschaft nach der Oper in Kutschen auf dem Weg ins »Trocadero« war. Die drei Männer saßen in der Kutsche der von Doerings, die Damen hatten die etwas geräumigere Schwemer’sche Karosse gewählt. Vorher, im Foyer der Oper, hatten alle Gäste ein Spalier gebildet, um der kaiserlichen Familie beim Verlassen des Gebäudes zu applaudieren. Der Kaiser, dem der Zeremonienmeister folgte, der ihm hin und wieder etwas ins Ohr raunte, hatte sich immer wieder nach links und rechts gewandt, gelächelt, gewunken, gelegentlich ein Wort gewechselt – dann war er vor der Familie des Freiherrn stehen geblieben und hatte unvermittelt gesagt »… und das muss der Held von Togo sein« und dabei seinen Blick auf Wilhelm gerichtet. Wilhelm verbeugte sich so tief, dass er die ausgestreckte Hand des Kaisers erst bemerkte, als sein Vater ihn dezent anstieß. Als er gerade etwas erwidern wollte, war der Monarch schon wieder weitergegangen und winkte in die begeisterte Menge.
»Er hat dich begrüßt, als Einzigen an diesem Abend!« Richard von Schwemer ließ sich in das Lederpolster der Kutsche sinken und sog tief und genüsslich an seiner Zigarre. »Er hat meinem Sohn die Hand gegeben …!«
Das Tanzlokal »Trocadero« war der letzte Schrei Berlins. Hier genügte es nicht, das hohe Eintrittsgeld zahlen zu können, man musste entweder wichtig sein oder einen Wichtigen kennen, um Einlass zu erlangen. Die Schwemer-Gesellschaft war wichtig genug, und so hatte man einen Sechs-Personen-Tisch an der Tanzfläche nahe der Bühne erhalten. Was dort geboten wurde, war das Geld wert: Die beste Kapelle Berlins und die beliebtesten Sänger unterhielten das Publikum mit den neuesten Schlagern. In diesem Jahre waren das vor allem zwei neue Schöpfungen des Berliner Komponisten Walter Kollo – »Untern Linden« und »Wie einst im Mai« – sowie der Schlager »Püppchen, du bist mein Augenstern« aus der Erfolgsoperette »Das Autoliebchen«.
Das anspruchsvolle Publikum, das unter anderem auch deshalb ins »Trocadero« strömte, weil es hier ausschließlich Champagner zu trinken und somit keinen Grund gab, sich dabei Zurückhaltung aufzuerlegen, jubelte, als das »Püppchen« erklang und dazu eine charmante junge Dame im Hintergrund wie eine Puppe tanzte. Wilhelm entging nicht, dass Charlotte dieser leicht frivolen Darbietung mit gemischten Gefühlen folgte. Er wandte sich an seinen künftigen Schwiegervater und bat um die Erlaubnis, Charlotte zum Tanz auffordern zu dürfen.
Als sie eingekeilt zwischen Tanzpaaren auf dem Parkett standen und nur wenig Bewegungsfreiheit hatten, sagte Charlotte unvermittelt in Wilhelms Ohr: »Ich mag das hier alles nicht. Es ist so – so schamlos …«
Wilhelm sah sie überrascht an und blickt sich dann um. »Aber es sehen doch alle sehr gesittet aus«, erwiderte er. »Na ja, vielleicht abgesehen von der Tänzerin vorhin.«
»Das ist es nicht, was ich meine. Ich finde nur …«, sie suchte nach Worten und sagte dann noch leiser: »Es hat alles so etwas Übertriebenes. Die Leute wirken so
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