Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Lungenschwäche. Sie werden dich bärenstark machen, wie Old Shatterhand und Buffalo Bill. Und glaub mir – dann kannst du exerzieren wie der Teufel. Dafür lohnt es sich doch, oder?«
Der Junge nickte wenig begeistert, erhob sich und ging zu seinen Zinnsoldaten. Auf halbem Weg blieb er stehen und begann zu weinen. Wilhelm sah Karl an, der zuckte mit den Achseln und machte ein ratloses Gesicht. Schluchzend erklärte Adalbert schließlich: »Zuerst dachten wir, du wärest tot! Das Telegramm aus Lomé war nämlich unvollständig, und es klang so, als hätten sie dich getötet. Drei Tage lang dachten wir, dass …«
»Das tut mir leid!«, sagte Wilhelm, »es hätte aber auch nicht viel daran gefehlt. Wisst ihr, wenn Aiauschi nicht gewesen wäre …« Und er erzählte ihnen genau, was vorgefallen war. Helène, die auf dem Weg vom Esssalon zu ihrem Schlafraum vor der halb geöffneten Tür des Kinderzimmers stehen geblieben war, lauschte. Durch den Türspalt sah sie, wie die Jungen an Wilhelms Lippen hingen. Und sie sah die Liebe in den Augen ihres Ältesten. Nachdenklich entfernte sie sich nach einer Weile. Sie musste an Adèle denken.
Charlotte
Die Eintrittskarten für das Parkett zu bekommen war selbst Richard Freiherr von Schwemer nicht leichtgefallen. Aber er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, und nun endlich hielt er sechs Karten für die »Ariadne«-Aufführung in der königlichen Oper in der Hand. Er fächerte sie auf wie ein Kartenspiel und lächelte zufrieden – Wilhelm sollte standesgemäß in die Berliner Gesellschaft eingeführt werden …
Ein Opernabend im Beisein der kaiserlichen Familie war das höchste gesellschaftliche Ereignis, das die preußische Hauptstadt zu bieten hatte. Es gab keine Eintrittskarten zu kaufen, sondern nur Ehrenkarten, die nach einem komplizierten Schüssel vergeben wurden, den der Zeremonienmeister des Kaisers, Georg vonHülsen, entwickelt hatte. Danach konnte niemand sicher sein, die begehrte Einladung automatisch zu erhalten – abgesehen vom kaiserlichen Familienkreis –, sondern das Privileg musste jedes Mal erneut durch besondere Loyalität und Wohlverhalten verdient werden. Wer dennoch nicht berücksichtigt wurde, musste seine Beziehungen spielen lassen.
Richard und Helène von Schwemer, Gouverneur von Doering und seine Gattin sowie Wilhelm und Charlotte nahmen in ihrer Sitzreihe Platz: die Herren außen, dann die Damen und in der Mitte das künftige Brautpaar, Wilhelm in seiner Gala-Uniform, Charlotte in einem himmelblauen Abendkleid mit weißen Spitzen. Sie hatte ihr Haar zu Löckchen gedreht, die ihr feines Gesicht umrahmten und noch zarter wirken ließen.
Nach Wilhelms Rückkehr aus Lagarde hatten die Verlobten noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu unterhalten. Und jetzt, inmitten der Berliner Honoratioren, war kaum mehr als der Austausch von Höflichkeiten möglich. Als die beiden Familien im Foyer aufeinandertrafen und sich das Paar unter den aufmerksamen Blicken der Eltern begrüßte, war Wilhelm die Wiedersehensfreude Charlottes nicht entgangen. Ihre Wangen glühten förmlich, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt und er sich zum angedeuteten Kuss darüber beugte. Nachdem man sich gesetzt und bekannten Gesichtern huldvoll zugenickt hatte, sagte Charlotte leise zu Wilhelm: »Ich war außer mir vor Sorge, als ich erfuhr, was in Togo vorgefallen ist. Mein Vater hatte es uns geschrieben. Nach seiner Rückkehr vor einer Woche erzählte er mir die Einzelheiten – zumindest soweit sie ihm bekannt sind, er war ja nicht unmittelbar dabei –, und er beglückwünschte mich: Ich bekäme einen Helden zum Gatten.« Scheu lächelte sie Wilhelm von der Seite an. Ihre Hand berührte kurz und wie zufällig sein Bein.
Wilhelm sah ihr in die Augen und beugte sich ein Stück zu ihr, soweit es die Schicklichkeit erlaubte, und sagte ebenfalls mit gedämpfter Stimme: »Nein, Charlotte, Afrika ist kein Land für Helden. Entweder man hat dort Glück oder nicht. Ich hatte Glück. Und zwar in Gestalt eines Mannes, dem ich bis an mein Lebensende dankbar sein werde.«
»Bei der nächsten Reise möchte ich dabei sein«, sagte sie. »Ich habe schon mit meinem Vater darüber gesprochen. Er hat mir übrigens fast dasselbe gesagt: Afrika braucht keine Helden, sondern Hilfe. Ich möchte helfen. Wenn ich meine Ausbildung zur Krankenschwester hinter mir habe, möchte ich den Menschen dort helfen. Am liebsten in der Klinik, in der du behandelt worden bist.«
»Das ist eine Klinik für weiße
Weitere Kostenlose Bücher