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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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schaffe ich allein.«
    Wilhelm blieb stehen und sah ihm nach, wie er im Eingang des Krankenhauses verschwand.

Arbeiter
    Elisabeth hatte Wilhelm von der elektrischen Straßenbahn erzählt. Er war neugierig darauf und entschloss sich, auf dem Heimweg ein paar Stationen mit der Linie 22 zu fahren. Er ging zum Brandenburger Tor. Dort, wo die neue, schnurgerade zwanzig Kilometer lange Allee nach Westen führte, auf der der Kaiser seine neuen Autos auszuprobieren pflegte, startete auch die Linie 22, die in die entgegengesetzte Richtung fuhr.
    Wilhelm freute sich, einen der begehrten Plätze auf dem offenen hinteren Teil des Waggons gefunden zu haben, die an warmen Sonnentagen normalerweise alle besetzt waren, als die Bahn auch schon wieder stoppte. Die Fahrgäste wurden gebeten auszusteigen, da eine Weiterfahrt bis auf weiteres nicht möglich sei, die Straßen seien durch streikende Arbeiter blockiert.
    Je weiter Wilhelm ging, desto hektischer wurde es in den Straßen. Männer liefen hin und her, Rufe ertönten, hin und wieder rannte eine Polizeistaffel im Gleichschritt vorbei. Wilhelm wusste, dass es in den letzten Wochen immer wieder Unruhen gegeben hatte; diesmal ging es allerdings nicht um schlechte Arbeitsbedingungen, sondern um die letzte Parlamentswahl vom Anfang des Jahres: Die Sozialdemokraten hatten eine überwältigende Mehrheit erreicht, erhielten für die 500 000 Stimmen, die sie in Berlin errungen hatten, nur sieben Parlamentssitze. Die Konservativen mit ihren 400 000 Stimmen erhielten 212 Sitze. Die organisierte Arbeiterschaft forderte seit Monaten ein neues Wahlsystem, das die Sitzverteilung dem Stimmanteil gerechter anpassen sollte. Die Konservativen und nationalen Parteien mit ihrer Mehrheit und mit Unterstützung des Kaisers lehnten dieses Begehren jedoch ab. Nun entlud sich der Unmut darüber auf den Straßen.
    Mehrmals musste Wilhelm Schutz in Haus- und Geschäftseingängen suchen, wenn berittene Polizei die Straße entlanggaloppierte. In der Ferne hörte er die Gesänge der Demonstranten, die lauter wurden und offenbar näher kamen. Immer wieder rannten Menschen in unterschiedlichen Richtungen die Straße entlang, verfolgt von Polizisten, die ihre Holzknüppel schwangen. Wilhelm wunderte sich, dass man ihn unbehelligt ließ, so als gehöre er nicht dazu. Irgendwann dämmerte ihm, dass es mit seiner Bekleidung zu tun haben musste: Die Polizisten trugen ihre Uniformen, die Demonstranten ihre Arbeiterkleidung – und er seine Studentenuniform. Sie ließ ihn wie einen Verirrten wirken – zur falschen Zeit am falschen Ort.
    Das änderte sich, als eine Gruppe flüchtender Demonstranten plötzlich auf ihn zukam und ihn einkreiste. »Nehmen wir ihn mit«, schrie ein Mann, »er ist unsere Geisel, dann schießen sie nicht auf uns!«
    Einen Moment lang sahen sich die zumeist jungen Burschen unsicher an, dann wurde Wilhelm von mehreren Händen gepackt. »Du brauchst nur zu gehen, wir zeigen dir den Weg!«, sagte einer. »Und wenn du brav bist, passiert dir nichts.«
    Wilhelm fügte sich. Der Trupp von etwa zehn Männern, die ihn umringten, zog in Richtung Schlesischer Bahnhof, Wilhelm in ihrer Mitte. Es kam ihm so vor, als wäre es auf einmal still geworden, er sah keine Polizisten mehr, hörte keine Gesänge, keine Schreie. Auch seine Begleiter schienen dies zu bemerken und verlangsamten ihre Schritte, als sie sich einer kleinen Kreuzung näherten. Zwei von ihnen gingen vor, um in die kleine Straße hineinzublicken, die von grauen, abgeblätterten Mietshäusern gesäumt war, als plötzlich aus einem Torweg ein Trupp Polizisten herausstürmte und sofort das Feuer eröffnete. »Hinterhalt!«, schrie einer der Demonstranten. Wilhelm warf sich wie mehrere andere auch flach auf den Boden, einige liefen davon in die Richtung, aus der sie gekommen waren und wurden von Kugeln getroffen. Wilhelm sah sie taumeln und zu Boden stürzen. Er legte seine Hände über den Kopf zusammen, um sich zu schützen.
    Geschrei, Schüsse, Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster. Als Wilhelm vorsichtig seinen Kopf hob, sah er vor sich einen Hinterhof, dessen hölzernes Tor offen stand. Langsam kroch er darauf zu. Als er den Bürgersteig erreichte und sich gerade erheben wollte, um dort Zuflucht zu suchen, wurde er erneut von Händen gepackt, die ihn in eine andere Richtung zerrten. Noch ehe er sich vollständig aufrichten konnte, wurde er in einen Hauseingang gestoßen. »Nicht in den Hinterhof!«, sagte eine Stimme, die zu den Händen zu

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