Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
gehören schien, »dort warten noch mehr Polizisten. Schnell die Treppe hoch, schnell!«
Wilhelm blickte sich um und sah einen jungen Mann seines Alters, der gekleidet war wie ein Zimmermann und eine Ballonmütze trug, nicht unähnlich seiner eigenen Studentenmütze. Ohne nachzudenken, folgte er der Anweisung und lief die Treppen hinauf. In der zweiten Etage stand eine Wohnungstür offen, eine junge Frau wartete dort offenbar auf ihn und winkte ihn herein. Als auch der junge Mann die Wohnung erreicht hatte,schloss sie schnell die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
Wilhelm starrte sie an und erkannte sie nicht sofort. Dann dämmerte es ihm: Luise, das Hausmädchen seiner Eltern. Sie bemerkte sein Erkennen und nickte. »Ich habe Sie vom Fenster aus gesehen und meinen Bruder hinuntergeschickt, um Sie dort herauszuholen. Darf ich vorstellen: Das ist Otto, mein Bruder.«
Der junge Mann nahm seine Mütze ab. »So lernt man nach und nach die Herrschaften kennen«, sagte er lächelnd. »Erst Ihre Schwester, jetzt Sie.«
»Meine Schwester? Haben Sie sie auch gerettet?«
»Nein«, antwortete Otto und schmunzelte, »das war nicht nötig. Obwohl – es hätte durchaus etwas passieren können, so wie sie sich aufgeführt hat. Aber das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, oder: Fragen Sie sie am besten selbst. Jetzt müssen wir erst mal sehen, wie wir Sie heil nach Hause bekommen.«
»Danke«, sagte Wilhelm und blickte sich um, »wohnen Sie allein hier?«
Diesmal war es Luise, die leise lachte. »Nein«, sagte sie, »dort wohnt meine Familie« – sie deutete auf eine Tür, die hinter ihr vom Flur abging –, »und dort eine Familie, die kürzlich aus Italien nach Deutschland gekommen ist, der Mann und die Frau arbeiten beide bei Siemens.« Sie zeigte auf die gegenüberliegende Zimmertür.
»Eie ganze Familie wohnt dort drinnen?«, fragte Wilhelm erstaunt.
»Sie haben nur ein Kind. Aber das zweite kommt bald.«
»Erzähl ihm diese Geschichten später«, schaltete sich Otto ein, der hinter einem Vorhang aus der Küche auf die Straße hinunterblickte. »Ich glaube, wir können es wagen, es ist niemand mehr zu sehen …« Er gab Wilhelm einen Wink und öffnete die Haustür.
Unten angekommen, hielt er Wilhelm noch einen Augenblick zurück und sagte dann: »Die Luft ist rein. Gehen Sie nach links zur S-Bahn, die fährt noch, sie wird zwar von der Polizei bewacht, aber Sie wird man hineinlassen.«
Als Wilhelm sich bedanken wollte, winkte Otto ab. »Eine Hand wäscht die andere, irgendwann kommt der Tag, da können Sie sich revanchieren.«
Wilhelm trat hinaus auf die Straße, auf der niemand mehr zu sehen war.
Elisabeth
Was Wilhelm im Wedding erlebt hatte, war nur ein Vorgeschmack auf den Herbst der Unruhen in Berlin. Fast jeden Abend waren die Aktionen der Arbeiter Gesprächsthema am Esstisch der von Schwemers: Der Freiherr empörte sich lautstark über die immer dreisteren »Unverschämtheiten« der Sozialdemokraten. »Es ist mir ein Rätsel, warum der Kaiser sie immer noch im Abgeordnetenhaus duldet!«, schnaubte er. »Kein Respekt, kein Gehorsam, keine Staatsraison! Stattdessen immer nur Forderungen! Sie können den Hals nicht vollkriegen. Jetzt wollen sie auch noch, dass Frauen ins Parlament gewählt werden dürfen.« Er knüllte seine Serviette zusammen und warf sie auf die Essenreste, die auf seinem Teller lagen. Es hatte Rehrücken auf Pastinaken gegeben. Die lagen noch unangetastet auf dem Teller, der Freiherr verachtete Gemüse. »Richard, bitte«, sagte Helène von Schwemer, »die Kinder …«
Es war einer der letzten warmen Herbsttage des Jahres, die Tür zum Garten stand offen, und ein Windhauch bauschte den Vorhang auf, der dabei eine Vase zu Boden riss. Mit einem Aufschrei sprang der Freiherr, der mit dem Rücken zum Fenster saß, auf die Beine und schnellte herum. Er starrte zur Terrassentür.
»Keine Sorge«, ließ sich Elisabeth vernehmen, »hierher kommen sie nicht, die frechen Sozis. Sie würden es nie wagen, einen Fuß in Ihr Haus zu setzen – das Haus eines so wichtigen Mannes …«
Der Freiherr sah sie einen Moment lang zweifelnd an, er war stets unsicher, ob seine Tochter etwas ernst meinte oder ob sie sich wieder eine Frechheit erlaubte. Gerade wollte er sich für Letzteres entscheiden und holte für eine passende Antwort Luft, als Adalbert in die Stille hinein fragte: »Was ist das?«
Alle sahen ihn an. Es war nicht üblich, dass sich die Kinder ungefragt zu Wort meldeten.
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