Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Bier plaudern die höheren Chargen dann schon mal das eine oder andere aus.«
»Still jetzt!«, sagte Wilhelm, »für so etwas kann man vor dem Kriegsgericht landen.«
Von Trenck sah ihn verdutzt von der Seite an, stellte sich dann in seinen Steigbügeln auf und wandte sich nach hinten, um zu sehen, ob jemand ihnen zugehört hatte, als sein Pferd ins Straucheln geriet. Er stürzte in hohem Bogen über den Hals des Tieres nach vorn und landete auf dem Rücken im Matsch.
»Halt!«, rief Wilhelm nach hinten und hob einen Arm in die Höhe. Doch die Kolonne kam nicht sofort zum Stehen. Die ersten drei Reihen der nachfolgenden Reiter trabten über Robert von Trenck hinweg. Wilhelm sprang ab, kroch unter den Pferden hindurch zu Robert und zerrte ihn am Arm aus der Gefahrenzone.
Robert lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken und atmete schwer. »Steh auf«, sagte Wilhelm, »es muss niemand merken, dass du immer noch nicht ganz nüchtern bist.«
Robert ächzte und versuchte, seinen Kopf zu heben. Er sah Wilhelm an: Es geht nicht – signalisierten seine Augen.
»Kannst du die Beine bewegen?«
Er schüttelte den Kopf.
Wilhelm seufzte. »Sani!«, rief er und winkte zum Ende der Kolonne. »Ein Verletzter!«
Auf der Sanitätsstation wurde bei Robert von Trenck ein Wirbelbruch festgestellt. Aber schon am nächsten Tag hatte er seine Sprache wiedergefunden und schimpfte wie ein Rohrspatz, alsWilhelm ins Krankenzimmer trat. »Setz alle Hebel in Bewegung, damit sie nicht mit dem Krieg anfangen, bevor ich wieder auf den Beinen bin!«, rief er ihm entgegen, kaum dass Wilhelm den Raum betreten hatte. »Das ist ja wohl das Letzte: Sechs Monate, sagen sie, sechs Monate kann es dauern, ehe ich meinen Rücken wieder voll bewegen kann! Und ob ich jemals wieder reite, das steht in den Sternen, sagen sie! Die haben sie wohl nicht alle, diese Ärzte!«
»Sind die vom Pferd gefallen oder du?«, entgegnete Wilhelm. »Du solltest froh sein! Es hätte viel schlimmer kommen können, wenn zum Beispiel die Pferde in Panik geraten wären. So sind sie säuberlich über dich hinweggestiegen.«
»Hast ja recht«, seufzte Robert.
»Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass du mich jetzt für eine Woche nicht mehr sehen wirst. Wir ziehen ins Hauptmanöver. Benimm dich anständig!« Er salutierte und verließ den Raum. Dann steckte er noch einmal den Kopf durch die Tür und fragte: »Bist du noch an meiner Schwester interessiert? Oder möchtest du keine Krankenbesuche?«
*
Luise hatte sich über sich selbst gewundert. Bis zum Herbst war ihr Leib fast unverändert geblieben. Sie passte mühelos in ihre Hausmädchenkleider, sie hatte keine Beschwerden, war beweglich und belastbar. Elisabeth hatte sich immer mal wieder diskret nach ihrem Befinden erkundigt und war jedes Mal erleichtert, wenn sie hörte, dass es keine Probleme gab. Trotzdem hatte sie Luise zweimal zu ärztlichen Untersuchungen begleitet. Die Vorsitzende des Berliner Frauenverbandes hatte den Termin für sie gemacht, der Verband hatte sich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen.
Der Arzt, ein ungemein korpulenter Mann in den Sechzigern, der stets in einer Hand ein leuchtend rotes Taschentuch hielt, um sich damit den Schweiß abzutupfen, der bei der kleinsten körperlichen Anstrengung auf seiner Stirn erschien, erwies sich als eingeweiht und unkompliziert. Er verlangte keine Personalpapiere oder Versicherungsnachweise von Luise. »Wenn der Verband Sie schickt, ist es in Ordnung«, hatte er zu Luise gesagt. Das einzig Ungewöhnliche war, dass sie ihre Termine nach Ende der offiziellen Sprechzeit erhielt. Außer ihnen befanden sich keine weiteren Patienten in der Praxis.
»Mein Onkel sieht diese Aufgabe als seinen persönlichen Beitrag zur Frauenbewegung«, hatte Carla von Maydell, die Verbandsvorsitzende, Elisabeth erklärt. »Er und meine Tante sind das ungewöhnlichste Paar in Berlin, das ich kenne. Sie ist Hebamme, er Gynäkologe, und beide zusammen bringen mühelos 400 Pfund auf die Waage. Aber das hindert sie nicht daran, Aktivisten der Berliner Bergjugend zu sein. Einmal im Jahr reisen sie ins Allgäu und wandern dort mit Jugendgruppen.« – »Na dann …«, hatte Elisabeth geantwortet.
Die zweite Untersuchung Luises verlief ebenso reibungslos wie die erste. Das Mädchen, das vor Schüchternheit kein Wort herausgebracht hatte, seit sie in der Praxis war, sah den Doktor dankbar an, als er sagte: »Ich habe noch nie eine so kerngesunde Gebärmutter gesehen wie
Weitere Kostenlose Bücher