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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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näher – und sein Atem stockte. »Was um Gottes willen ist das denn?«
    »Das ist die Zeitschrift, die du kürzlich vom Arztbesuch mitgebracht hast. Eine Arztzeitschrift, sozusagen …«
    Sie legte sie auf das Bett, und Wilhelms Blick fiel auf ein Foto von nackten, auf einer Wiese tanzenden jungen Frauen. Sie sprangen mit erhobenen Armen und reckten ihre Gesichter der Sonne entgegen. »Die Neue Zeit «, sagte Elisabeth, »du kannst froh sein, dass ich sie aus deiner Jackentasche genommen habe, bevor jemand anders sie entdeckt hat. Du Ferkel!«
    »Was …!?«
    »Was guckst du dir für Sachen an?«
    »Ich – ich guck’ sie mir gar nicht an. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich die Zeitschrift bei mir hatte.«
    »Ja ja, der Ernst hat sie dir gegeben oder seine Schwester, nicht wahr?«
    »Der Ernst – wieso nennst du ihn so? Ach ja, da fällt mir ein: Er hat mir Grüße an dich aufgetragen.«
    »Kannst mal sehen, in welch illustren Kreisen deine Schwester verkehrt. Der Herr Professor lässt grüßen …«
    »Ja, aber was hast du mit ihm zu tun?«
    »Unsere Frauengruppe hat vor kurzem an einem Wochenendausflug der Wandervögel teilgenommen. Sie hatten uns eingeladen, um uns die Vorzüge des Reformlebens zu demonstrieren.«
    »Und – worin bestehen die?«
    »Nun, sie baden nackt. Schwedisch baden nennen sie es. Im Waldsee.«
    »Und du?«
    »Mir war es zu kalt. Aber Friderike, die war drin.«
    »Nackt?«
    »Das möchtest du wohl wissen. Aber gut: Nein, sie trug einen Badeanzug, sosehr Ernst sie auch davon zu überzeugen versuchte, dass das Wasser die Ionen ihres Körpers nur dann optimal aussteuern könne, wenn sie textilfrei badet.«
    »Ihre Ionen?«
    »Ja, so was hast du auch. Ist elektrisch. Im Körper. Saust da immer rum. Aber egal – hier spielt die Musik!« Sie wedelte mit der Zeitschrift. »Du möchtest sicher nicht, dass jemand erfährt, dass sich so etwas Unschickliches in unserem Haus befindet, oder?«
    »Ich höre«, sagte Wilhelm, »welche Erpressung hast du dir diesmal ausgedacht?« Er verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig vor Elisabeth.
    »Oh! Welch böses Wort! Ich möchte doch nur, dass du eines meiner Vorhaben unterstützt, wenn es hart auf hart kommen sollte.«
    »Mach es nicht so spannend!«
    »Ich will studieren. Und zwar in Hamburg. Dort können Frauen jetzt an der Universität Jura studieren, ganz offiziell, mit Abschluss, nicht nur als Gasthörer. In Finnland geht das schon lange, aber darüber brauche ich mit ihm wohl gar nicht erst zu diskutieren.«
    »Mit ihm? Wenn du Vater damit meinst – da brauchst du mitHamburg gar nicht zu kommen. Du hast doch gehört, was er von Frauen hält, die so sein wollen wie Männer.«
    »Eben!«, erwiderte sie fröhlich. »Und da baue ich auf dich! Ich könnte mir vorstellen, dass du vielleicht die richtigen Argumente findest, um ihn davon zu überzeugen, dass es genau das Richtige für seine missratene Tochter ist, wenn sie mal für eine Weile verschwindet.«
    »Kannst du das Heft verschwinden lassen?«
    »Aus deinem Zimmer meinst du? Klar, ich kann es auf den Esstisch legen.«
    Wilhelm seufzte. »Gut, ich werde mich zu gegebener Zeit für Hamburg in die Bresche werfen. Und wenn es klappt, hat es ja auch sein Gutes: Dann bin ich dich Quälgeist endlich los.«
    »Sieh nur, wie schön sie springen!«, sagte Elisabeth und hielt Wilhelm ein Foto aus der Neuen Zeit vor die Nase. »Noch ist dein Quälgeist hier …« Mit diesen Worten verließ sie sein Zimmer, nicht ohne ihm durch den Türspalt eine Kusshand zuzuwerfen. »Ich würde nie etwas gegen deinen Willen tun«, hauchte sie, Charlotte nachahmend.
    *
    Die Einberufung kam nicht unerwartet für Wilhelm, seit Wochen waren die Zeitungen voller Berichte über die vielen Bedrohungen, denen das Deutsche Reich ausgesetzt sei. Generalstabschef von Moltke riet dem Kaiser, nicht länger den Waffengang mit Frankreich und Russland zu scheuen, zu mächtig sei die Allianz, von der Deutschland umzingelt sei, zumal diese auch noch mit England im Bunde stehe, dem Land mit der gewaltigsten Seestreitmacht der Welt. Diese Vorherrschaft sei zu brechen, wenn man nur bereit wäre, genügend in den Schiffbau zu investieren.
    Und der Kaiser investierte. Es begann ein nie da gewesenes Wettrüsten, das das Reich an den Rand des Ruins führte. Der Reichstag stimmte umgehend einem erneuten Kriegskredit zu. Jeder »anständige Deutsche« unterstützte die Parole des Kaisers, es sei höchste Zeit, Deutschland

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