Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
suche uns mal einen Gepäckträger.«
Elisabeth hatte Friderike vermisst, die ein Semester vor ihr nach Hamburg gezogen war und ein möbliertes Zimmer in der Schlüterstraße bewohnte, wo eine alte Dame an Studentinnen vermietete. Es gab Platz für fünf Mieterinnen, eine hatte ihr Studium beendet, und Friderike hatte das frei werdende Zimmer sofortfür Elisabeth reserviert. Richard von Schwemer hatte ungläubig den Mietpreis zur Kenntnis genommen. »Fünf Mark im Monat, das kann nur eine Bruchbude sein. Aber bitte, ich muss da ja nicht wohnen …!«
Es war keine Bruchbude. Die Zimmer der Wohnung in dem schneeweißen Haus mit seinen Türmchen und Erkern waren von Licht durchflutet, der helle Holzfußboden glänzte von frischem Lack, die Möbel sahen aus wie neu. Eine Durchgangstür verband die Zimmer, in denen Elisabeth und Friderike wohnten. Die Vermieterin, eine kleine, leicht gebeugte Frau mit weißem Haar, stand in der Tür, als Elisabeth im Zimmer umherging. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, sagte sie. »Sie sind aus der Hauptstadt sicherlich ganz anderes gewohnt.«
Elisabeth antwortete nicht gleich, sie drehte sich langsam mehrmals um die eigene Achse und streckte die Arme aus. Dann blickte sie die Vermieterin an. »Ja«, erwiderte sie, »so etwas Schönes sind wir in Berlin nicht gewohnt.«
Noch am selben Abend nahm Friderike sie mit zu einem Treffen des Hamburger Frauenvereins. »Hier sind sie schon viel weiter als in Berlin«, erklärte Friderike. »Hier guckt einen niemand scheel an, wenn man seine Freundin abends auf der Straße unterhakt.« Und damit schob sie ihren Arm unter Elisabeths und lachte glücklich.
Elisabeth konnte ihre Verblüffung nicht verbergen, als sie bei der Versammlung ihrer Vermieterin, Frau Eisenblätter, gegenüberstand. »Wir kennen uns ja schon«, sagte die, »ich freue mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.«
»Frau Eisenblätter ist schon lange dabei«, erklärte Friderike später, »sie ist eine der Gründerinnen. Sie ist eine der beeindruckendsten Frauen, die ich kenne. Du wirst sie mögen.« Dessen war Elisabeth sich jetzt schon sicher.
Als sie spät am Abend in ihrem Zimmer die letzten Gepäckstücke ausgepackt hatte, lag Robert von Trencks Brief auf dem Boden des Koffers. Sie nahm ihn heraus und drehte ihn in den Händen. Sie hatte ihn bisher nicht wegwerfen wollen, Robert war schließlich ein Freund ihres Bruders, sein bester Freund. Under war ein netter, anständiger Kerl. Aber der Brief! Als sie ihn zum ersten Mal gelesen hatte, mochte sie ihren Augen kaum trauen. Was dort stand, erschien ihr wie aus einer anderen Zeit. Robert schilderte seine großen Gefühle für sie in Worten wie aus einer Operette. Er schien alles ernst zu meinen, trotzdem konnte sie an manchen Stellen nur lauthals lachen. »Ich werde ewig warten, wenn es sein muss …«, stand dort.
Irgendetwas würde sie ihm antworten müssen, das gebot die Höflichkeit. Aber ihr waren noch keine passenden Worte eingefallen. Sie hörte, wie die Zwischentür langsam aufgeschoben wurde, dann erschien Friderikes Kopf im Türspalt. »Darf ich?«, fragte sie, »oder bist du schon im Nachthemd?«
Elisabeth hatte das Gefühl, die Schiebetür öffne ihr eine völlig neue Welt, eine Welt der Freiheit und der Leichtigkeit, eine Welt ohne Männer, Uniformen und Zigarrengestank. »Und wenn schon«, antwortete sie, »ein Nachthemd ist auch nur ein Hemd.«
»Ich wusste es: Du bist eine ganz große Philosophin!«, sagte Friderike und trat ins Zimmer, »überleg dir noch mal, ob du wirklich nur Jura studieren willst. Das wäre doch viel zu profan für eine Geistesgröße wie dich.«
Elisabeth ließ den Brief in den Koffer zurückfallen.
Post
Der herrliche Frühsommer in Aachen schien alle Welt davon überzeugen zu wollen, dass kein Anlass zu irgendeiner Besorgnis bestand. Trotzdem herrschten Nervosität und Hektik. Die Zeitungen berichteten täglich von besorgten Politikern und der Aufrüstung in den Ländern Europas, diplomatische Verwicklungen zwischen den Großmächten und Protestnoten beherrschten die Schlagzeilen. Manöver werden angesetzt und verschoben, neu geplant und abgesagt, Heimaturlaube genehmigt und wieder gestrichen. Offiziere wurden ausgetauscht, Generäle abgesetzt und neu ernannt. Der Kaiser ermahnte die europäischen Nachbarn fast täglich, die Provokationen nicht zu übertreiben.
Wilhelm versuchte, sich der allgemeinen Unruhe zu entziehen, er wurde Stammgast im Aachener Münster: Fast jede
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