Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Wirt zu Adèle, als er ihr einen Milchkaffee brachte.
»Auf welchen Moment?«
»Nun, wenn der Statthalter vorüberfährt.«
»Sie kennen ihn?«
»Jeder kennt ihn. Von Drewitz – der kleine Kaiser, wie er genannt wird. Er soll den Spitznamen sogar ganz gerne haben.«
»Und wieso glauben Sie, dass ich auf ihn warte?«
»Sie kommen fast jeden Tag zur gleichen Zeit, und kurz darauf fährt er vorüber. Das müsste auch ihm aufgefallen sein.«
Adèle war ihm tatsächlich aufgefallen. Allerdings nicht im Café, sondern in seinen Amtsräumen.
Die Holzfirma Dreyfus hatte einige Wochen zuvor den Auftrag erhalten, im Präsidium Bodendielen zu erneuern, Adèle gehörte zu den Handwerkern, die die Arbeiten ausführten. Raymond Dreyfus hatte ihr zunächst energisch die Bitte ausgeschlagen, dabei sein zu dürfen: »Es genügt, wenn ein Printemps in diesem Gebäude ist. Das Risiko wäre viel zu groß für dich! Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass du noch niemandem aufgefallen bist in deiner Kostümierung.«
Sie aßen an einem langen Tisch in der Werkstatt zu Abend im Kreis der Familie und einiger Angestellten, die ebenfalls hier wohnten. Alle waren Mitglieder der Bewegung, deren Aktivitäten überwiegend im Anbringen von Plakaten und Verteilen von Flugblättern bestand, die das Ende der Besetzung Elsass-Lothringens forderten. Sie nickten zustimmend.
»Mir wäre es lieber, sie würde unser Haus überhaupt nicht verlassen«, ergänzte Dreyfus’ Frau. »Dann könnte sie sich auch endlich wieder normal kleiden.«
»Das wäre jammerschade«, meldete sich der jüngste der Lehrlinge zu Wort, der Adèle gegenübersaß. »Sie sieht einfach süß aus, so wie sie ist!« Er stieß sie unter dem Tisch mit dem Fuß an. Adèle trat zurück und sagte: »Glaubt ihr, mir macht das ganze Theater Spaß? Aus dem Alter der Verkleidungsspiele bin ich heraus.«
»Ist ja gut!«, besänftigte der Lehrling, rieb sich mit einer Hand das Schienbein, die andere streckte er nach Adèle aus, um ihre Hand zu berühren. »Wir wollen alle dasselbe wie du. Mein Bruder sitzt auch in einem ihrer Kerker, keiner weiß, wie es ihm geht.«
Adèle stand auf, ging aus dem Raum und trat auf den kleinen Betriebshof, in dem Holzbretter in hohen Stapeln lagerten. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer Arbeitsjacke über die Augen. Es waren Tränen der Wut und der Hilflosigkeit, die sie nicht zurückhalten konnte. Ein kleiner Holzsplitter stach ihr dabei leicht ins Auge. »Au!«, sagte sie und versuchte, ihn herauszuwischen.
»Lass mal sehen«, sagte Raymond Dreyfus, der ihr gefolgt war. Er trat vor Adèle und zog mit einer Hand das Augenlid in die Höhe. »Guck nach unten«, sagte er, »ah, da ist er ja!« Vorsichtig entfernte er den Splitter und hielt ihn auf seiner Fingerkuppe vor Adèles Gesicht. »So winzig und so gemein! Puste ihn weg, dann kannst du dir was wünschen.«
»Das macht man nur mit Wimpern«, erwiderte Adèle trotzig und lächelte dabei.
»In unserem Gewerbe auch mit Holzsplittern. Die haben wir viel häufiger im Auge als Wimpern.«
Adèle pustete den Splitter von seinem Finger und sah dann den Mann an, den sie seit ihrer Kindheit kannte. »Bitte!«, sagte sie leise.
Dreyfus seufzte. »Na gut, ich nehm’ dich mit. Aber sag es nicht meiner Frau.«
Adèle hatte nicht erwartet, dass das Betreten des Amtsgebäudes des Statthalters sie so aus der Fassung bringen würde. Sie zitterte, als sie mit Werkzeug in den Händen die Treppen hinaufstieg und daran dachte, dass sich irgendwo unten im Haus ihr Vater befand. Ihr wurde schwindelig, sie blieb einen Moment stehen. »Alles gut?«, fragte der Lehrling, der neben ihr ging, und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Die Luft ist abgestanden hier, ich fühle mich auch nicht wohl.«
Sie nickte. »Die Luft ist es nicht«, sagte sie, atmete durch und ging weiter. »Bleib in meiner Nähe, ich habe Angst.«
Sie arbeiteten zu viert den ganzen Vormittag daran, in einem fast leeren Raum morsche Bohlen herauszusägen und durch frische zu ersetzen. Die mit Eisenstangen vergitterten Fenster waren so schmutzig, dass man nicht hinausblicken konnte. Während der ganzen Zeit stand ein Wachmann in der Tür und sah ihnen zu. Er sprach kein Wort, aber Adèle konnte seine Blicke in ihrem Rücken spüren, während sie zusammen mit den anderen hämmernd am Boden kniete.
Sie sah immer wieder zu dem Stuhl, der als einziges Möbelstück in der Mitte des Raumes stand. Sie stellte sich vor, dass ihr Vater darauf gesessen
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