Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hatte, während man ihn befragte, und dass er während der ganzen Zeit an sie gedacht hatte, ebenso wie sie jetzt an ihn. Er war in all den Jahre nach dem frühen Tod der Mutter ihr Halt gewesen, sie bewunderte ihn für seine Geschicklichkeit – sei es beim Lenken der Pferde vor dem Fuhrwerk, beim Stampfen der Weintrauben oder beim Zubereiten ihres Leibgerichts, Pfannkuchen mit Speck –, und sie liebte ihn seiner überschwänglichen Herzlichkeit wegen. Immer wieder hatte sie erlebt, wie er wildfremde Menschen mit seinem Humor und seiner Offenheit im Handumdrehen für sich gewann. Wenn sie zum Beispiel zum Pferdekauf auf den Markt nach Ommeray gefahren waren und er dort mit den Züchtern verhandelte, beobachtete sie fasziniert, wie die Männer sich freuten, mit ihm Geschäfte zu machen, auch wenn er es war, der dabei den besseren Schnittmachte. Sein Charme war Teil des Geschäfts. Es war ihr ebenfalls nicht entgangen, dass er den Herrschaften im Gutshaus anders begegnete. Er sprach selten über sie, und wenn, dann knapp und sachlich. Wenn er den Freiherrn oder dessen Frau traf, merkte Adèle, dass er das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Sie kannte den Grund nicht, aber ihr Vater schien die Anwesenheit der Deutschen, auf dessen Gut er angestellt war, als Bedrohung zu empfinden und sich zu wünschen, dass sie möglichst bald wieder abreisten.
Über Wilhelms tägliche Besuche während der Ferienzeit hatte er nie ein ablehnendes Wort gesagt. Im Gegenteil: Er lud den deutschen Jungen ein, gemeinsam mit ihnen zu essen, und wenn sie bei regnerischem Wetter einen Tag drinnen in der Küche verbrachten, erkundigte er sich interessiert nach dem Leben in Berlin, nach der Schule und Wilhelms Reitunterricht. Trotzdem empfand sie ihren Vater an solchen Tagen anders als sonst, er wirkte angespannt und unsicher. Aber sie machte sich keine Gedanken darüber, sie war viel zu erfüllt von der Anwesenheit des Jungen, mit dem sie sich so vertraut fühlte, als wäre er ihr Zwillingsbruder.
Sie hörte ein Räuspern hinter sich und drehte sich um. In der Tür stand jetzt anstelle des Wachpolizisten ein eleganter Uniformierter, der an einer weißen Zigarettenspitze sog. Als sich ihre Blicke trafen, sagte der Mann: »Wir bezahlen die Handwerker eigentlich, damit sie tun, wofür sie engagiert wurden, in diesem Fall: hämmern und sägen. Und nicht, damit sie vor sich hin träumen. Was ist an diesem Stuhl so interessant?«
Er betrat den Raum und umrundete den Stuhl. Alle vier am Boden Kauernden sahen zu ihm auf. Der Mann strich über die Lehne. »Qualitätsarbeit«, sagte er, »von deutschen Tischlern. Eigens aus Berlin hergeschafft. Muss ja auch einiges aushalten, das gute Stück.«
Dann sah er wieder zu Adèle. »Also? Was ist so interessant daran?«
Adèle erhob sich. Nach dem langen Arbeiten am Boden schmerzten ihre Knie ein wenig. Sie rieb sie ausgiebig, streckte sich dannund trat, immer noch ihren Hammer in der Hand, ebenfalls an den Stuhl heran. Von Drewitz zog überrascht eine Augenbraue hoch und trat einen Schritt zurück. Nun berührte Adèle den Stuhl. »Ja«, sagte sie, »solide Arbeit. Möchten Sie vielleicht Platz nehmen, Monsieur?«
Von Drewitz fixierte sie. Er sog an der Zigarette und ließ den Rauch langsam durch die Nasenlöcher entweichen. Er erinnerte Adèle an ein schnaubendes Pferd im Winter. »In diesem Raum«, erwiderte von Drewitz leise, »stellt niemand Fragen. Außer mir.«
Adèle nahm ihre Hand von der Lehne des Stuhls, ihr Blick fiel auf den Hammer in ihrer Hand. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Dreyfus sie entsetzt anstarrte. Einen Moment noch stand sie still hinter dem Stuhl, dann ging sie langsam zurück an die Stelle, wo sie zuvor gearbeitet hatte, und kniete sich wieder auf den Boden. Sie blickte von Drewitz weiter unverwandt in die Augen, während sie einen Nagel zur Hand nahm und ihn mit der Spitze auf das Holzbrett hielt, das vor ihr lag. Dann holte sie aus und traf ihn präzise auf den Kopf.
Freiheit
Elisabeth wurde bei ihrer Ankunft in Hamburg von einer strahlenden Friderike am Dammtorbahnhof abgeholt. Direkt gegenüber dem prachtvollen Sandsteingebäude strahlte die Kuppel der Universität in der Sonne. Elisabeth konnte es nicht fassen, dass sie künftig dort ein und aus gehen würde. Sie schlang die Arme um Friderike. »Die Welt gehört uns! Wir werden ganz groß rauskommen!«
»Natürlich«, antwortete Friderike, »aber zunächst müssen wir hier rauskommen. Ich
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