Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
freie Stunde ging er in die über tausend Jahre alte Kirche und suchte dort Ruhe und Abgeschiedenheit. Aber seine Gedanken kreisten unaufhörlich um Adèle. Er wusste, dass es von Aachen nach Lagarde nur ein Katzensprung war, in zwei Tagesritten könnte er dort sein. An manchen Tagen glaubte er förmlich, ihre Nähe zu spüren, dann wieder konnte er sich kaum an ihr Gesicht erinnern.
Die Post von zu Hause trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Sein Vater schilderte in Briefen aus Togo die wachsenden Schwierigkeiten, die Eingeborenen unter Kontrolle zu halten. Einem der Briefe war ein Blatt beigelegt, das Charlotte beschrieben hatte. Sie beschrieb begeistert ihre Arbeit im Krankenhaus von Anecho und erzählte, dass Wilhelms Aufenthalt dort allen noch in bester Erinnerung sei. »Ich glaube, man würde dich auf Händen tragen, solltest du hierher zurückkehren!« Ob und wann sie nach Berlin zurückzukehren beabsichtigte, schrieb sie nicht.
Eines Sonntagmorgens folgte Robert von Trenck Wilhelm in die Kirche. Wilhelm hatte gerade seinen Platz eingenommen, als er sich neben ihn setzte und ihm eine Hand auf den Arm legte. »Ich wollte nur mal in Ruhe mit dir reden. Warum bist du vorhin so überstürzt aus der Kaserne verschwunden?« Mehrere Damen, die vor ihnen saßen, drehten sich um und sahen sie vorwurfsvoll an. Wilhelm legte einen Finger an die Lippen. »Später.«
Als sie auf dem Kirchplatz hinaustraten, fragte Robert: »Also, was ist? Warum bist du so schnell verschwunden?«
»Der Kommandeur hat mich zu sich gerufen. Er hatte einen Brief meines Vaters erhalten, in dem darum gebeten wird, mich für einen Einsatz in Togo freizustellen. Ich würde dort dringend gebraucht, schreibt er. Der Kommandeur hat abgelehnt. Es täte ihm leid, aber derzeit würde jeder Mann gebraucht. Es stünden große Dinge bevor, das wüsste ich ja wohl.«
»Und – weißt du, wovon er spricht?«
Wilhelm schüttelte den Kopf. »Ich mache mir ganz andere Sorgen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie es meinem Bruder geht; ich weiß auch nicht, wie es meiner Mutter geht, sie drückt sichsehr verschwommen aus; und ich weiß nicht, wie es Adèle geht. Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt noch lebt.«
»Aber ich habe etwas gehört«, sagte Robert und zog strahlend einen Brief aus der Jackentasche, »von deiner Schwester! Sie hat mir endlich geantwortet.«
»Und – was schreibt sie?«
»Sie weiß meine Gefühle zu schätzen und hofft, dass unser Regiment möglichst bald wieder nach Berlin zurückverlegt wird, damit wir in Ruhe über alles sprechen können.«
»Na prima!«, sagte Wilhelm, »dann hast du ja Anlass zu Hoffnungen!«
»Und – hast du deinen Brief auch bei dir?«
»Welchen?«
»Na, den du immer bei dir hast, du weißt schon, den aus Lagarde …«
»Natürlich«, sagte Wilhelm, »allmählich beginnt er allerdings, in seine Einzelteile zu zerfallen.«
Als sie in die Kaserne zurückkamen, herrschte höchste Aufregung. »Gut, dass ihr endlich kommt: Sonderappell! Jetzt sofort!«, riefen ihnen die Kameraden zu. Nachdem sie im Hof angetreten waren, erschien der Kommandeur und verkündete den Männern, dass der Kaiser mit sofortiger Wirkung Ausgangssperre für alle angeordnet habe – bis auf weiteres.
»Bis auf weiteres«, wiederholte Robert, als sie auf dem Weg zum Schlafsaal waren, »das sind die Worte, die sie immer sagen. Da weiß man dann, was die Uhr geschlagen hat.«
Besuch
Helène von Schwemer war in ihrem Sessel am Fenster eingeschlafen. Der Blick auf die endlosen Reihen der Rebstöcke beruhigte sie mehr als alles andere. Oft hatte sie in diesen Tagen hier gesessen und geglaubt, die Stimmen ihrer Kinder im Haus zu hören, hatte im Geiste mit ihnen und ihrem Mann das erste Glas Wein des Tages getrunken und sich auf das gemeinsame Abendessen gefreut. Sie hörte das Klopfen an der Tür nicht sofort, erst beim dritten energischen Pochen schrak sie hoch. Nach kurzem Zögern erhob sie sich, ging zur Tür und blickte durch den Spion. Es war Printemps.
Sie öffnete, und noch bevor sie etwas sagen konnte, sprudelte es aus dem sonst so wortkargen Mann heraus. »Wissen Sie, Madame, so sind sie: Die einen lassen sie für immer in den Kellern ihrer Kasernen verschwinden, die anderen lassen sie unvermutet frei. Keiner weiß, was ihm vorgeworfen wird, keiner weiß, was sie mit ihm vorhaben. Sie wissen es selber nicht. Auf jeden Fall haben sie mich gestern plötzlich freigelassen. Ich möchte Ihnen danken.«
»Ich habe nichts dazu
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