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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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»Nicht mal Ihren Wein trinken sie aus?«, sagte Helène tadelnd. »So schwach können Sie doch nun wirklich nicht sein.«
    Sie reichte ihm das Glas, und er nippte folgsam daran. Als sie es wieder auf den Tisch zurückgestellt hatte, deutete er darauf und sagte: »Er schmeckt mir nicht, er stammt nicht aus Ihrem Keller.«
    Sie lächelte. »Ich weiß, was Sie meinen. Ich habe auch nirgends auf der Welt Wein gefunden, der mir so gut schmeckt wie der aus unserem Berg. Zum Glück sind noch einige Flaschen da, ich habe deshalb für morgen Abend eine Gesellschaft zum Essen eingeladen. Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit bekommen, unseren Wein zu genießen.«
    Rogér lächelte und nickte. »Ich würde liebend gern servieren, Madame«, sagte er leise, »ich fürchte allerdings, meine Beine sind dazu nicht mehr beweglich genug. Aber vielleicht kann mein Enkel …«
    »Der Schleusenwart? Ja, er wird auch kommen, er und mehr als ein Dutzend andere aus dem Dorf. Aber weder er noch Sie werden servieren. Denn Sie sind der Ehrengast, mein lieber Rogér, es wird ein Fest zu Ihren Ehren. Und bevor Sie jetzt protestieren …«, sie hob die Hand, um seine Einwände abzuwehren, »und mir sagen wollen, dass Sie den weiten Weg zu mir nicht mehrschaffen, sage ich Ihnen: Es ist alles vorbereitet! Sie werden abgeholt und anschließend wieder zurückgebracht. Es ist bereits alles organisiert.«
    *
    Helène war früh am nächsten Morgen aufgestanden, um das Festessen vorzubereiten. Sie hatte sich aus den Gärten der Nachbarn frisches Gemüse besorgt – ihr eigener Gemüsegarten war von Unkraut überwuchert –, der Bauer aus Ommeray, der die besten Rinder der Gegend züchtete, hatte das Fleisch beigesteuert. Als am späten Nachmittag die Sonne durch das Küchenfenster schien, standen alle Gerichte auf dem Herd und brauchten nur noch gar zu werden.
    Im Speisesalon begann Helène, die Möbel abzudecken, die Rogér im ganzen Haus mit weißen Tüchern verhängt hatte, um sie vor dem Staub zu schützen, auch an die Gemälde hatte er dabei gedacht. Mühsam schleppte sie eine Leiter aus dem Keller herbei, um die beiden Portraits ihrer Eltern, die gegenüber vom Esstisch an der Wand hingen, freizulegen. Als sie es geschafft hatte, stand sie still davor und lauschte, sie hatte das Gefühl, ihre Eltern ganz leise gemeinsam singen zu hören. So verharrte sie eine Weile, warf dann jedem von ihnen eine Kusshand zu und trug die Leiter in den Keller zurück.
    Die Gäste trafen ab sieben Uhr ein. Das Lehrerehepaar, der Pfarrer, der Apotheker mit seiner Schwester, der verwitwete Schmied und seine vier Töchter, mehrere Nachbarn, die auf umliegenden Hügeln ihren Wein anbauten; sogar der Fährmann, der mit fast allen Dorfbewohnern im Streit lag, war der Einladung gefolgt und erschien in Begleitung seiner Frau, die normalerweise nie das Haus am Kanal verließ, so dass schon gemunkelt worden war, sie sei schon lange nicht mehr am Leben. Als Letzter kam der Schleusenwärter, der Rogér untergehakt hatte und ihn stützte. Helène hatte in allen Räumen die Fenster geöffnet, die leichte Abendbrise bauschte hin und wieder die Vorhänge auf. Die Kerzen in schweren, silbernen Leuchtern, die Helène in den Zimmern auf den Tischen verteilt hatte, blakten im Windhauch. Andächtig schrittdie Gesellschaft durch die Räume. Man war sich einig, dass das Haus seit den Tagen der großen Feste der alten d’Alsace nicht mehr so schön ausgesehen hatte wie heute. Im Speisesaal nahm Rogér, zunächst widerstrebend, dann jedoch sich dem allgemeinen Zureden beugend, den Ehrenplatz am Kopf der langen Tafel ein.
    Helène hatte Répas Marcaire zubereitet, das traditionelle lothringische Sommergericht. Die Frauen halfen ihr, die Schüsseln hereinzutragen, die Männer öffneten die Weinflaschen und füllten die Gläser. Es dauerte nicht lange, und der Raum war von Stimmengewirr und Lachen erfüllt. Helène genoss den Augenblick, sie fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, in der sie als Kind heimlich auf dem obersten Treppenabsatz im Nachthemd sitzend die Abendgesellschaften ihrer Eltern beobachtete. Bauern, Pferdehändler, Schiffer, Weinaufkäufer und natürlich der Pfarrer gehörten zu den Gästen. Sie hatte das Auf- und Abschwellen der Stimmen geliebt, das helle Lachen der Frauen und das tiefe Grummeln der Männer. Sie hatte dann die Augen geschlossen und sich vorgestellt, einem Konzert zu lauschen. Hin und wieder blickte sie durch das Treppengeländer nach unten, um sich

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