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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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erhalten?«
    Helène schwieg.
    »Bitte, sagen Sie es mir!«, drängte Adèle.
    »Nein«, antwortete Helène, »aber falls er mir geschrieben haben sollte, wird seine Post in Berlin eintreffen. Er weiß nicht, dass ich hier bin.«
    Adèle tat einen schnellen Schritt auf Helène zu und ergriff ihren Arm. »Sie hätten nicht kommen dürfen, Madame. Nicht jetzt! Da die Deutschen noch nicht im Elsass einmarschiert sind, werden es stattdessen die Franzosen tun«, sagte sie, »vielleicht schonmorgen! Dann werden die Deutschen auch nicht lange auf sich warten lassen. Ich bitte Sie: Reisen Sie ab, gleich morgen früh! Dieser Ort ist für Tanz und Gesang nicht geeignet.«
    Jemand öffnete von innen das Fenster des Salons, das Klavier tönte laut zu ihnen heraus, ebenso die Stimmen von fröhlichen Frauen und Männern, die mitsangen. Helène sah zum Fenster. Als sie sich wieder umwandte, war Adèle verschwunden.
    *
    Adèle hatte in den letzten Wochen Übung darin erworben, unbemerkt zu verschwinden. Zuerst in Straßburg. Nach der kurzen Begegnung mit von Drewitz hatte Raymond Dreyfus sie kein weiteres Mal ins Polizeipräsidium mitgenommen. »Der Mann hat dich ab jetzt im Visier«, sagte er zur Begründung. »Du hast dich sehr auffällig benommen. Es wäre ein Leichtes für ihn, deine Maskerade zu beenden. Zeig dich am besten nicht mehr in der Nähe seines Amtssitzes. Mir wäre es am liebsten, du gingest gar nicht mehr auf die Straße. Dein Vater zählt zu den Köpfen der Bewegung, da wäre seine Tochter ein kapitaler Fang für sie.«
    Adèle nickte und ging dennoch weiter in das Café. Es fiel ihr nicht auf, als an einem Nachmittag das Fahrzeug des Statthalters nicht zur gewohnten Zeit erschien. Stattdessen gab ihr der Wirt von seinem Tresen aus Handzeichen, ihren Platz am Fenster zu verlassen und zu ihm zu kommen. »Links und rechts vom Eingang stehen Polizisten«, raunte er ihr zu und schob sie zum Hinterausgang. »Sie scheinen auf dich zu warten. Verschwinde über das Nachbargrundstück!«
    Von Drewitz tobte vor Wut, als er erfuhr, dass Adèle seinen Leuten entwischt war, und schickte einen Trupp zur Zimmerei Dreyfus. Aber auch dort war der verdächtige Lehrling nicht zu finden. Nach seinem unverschämten Auftritt im Präsidium habe man ihn entlassen, teilte Dreyfus den Beamten mit. Keiner wisse, wo er sich jetzt aufhalte.
    Adèle hatte noch am selben Abend den Zug nach Verdun genommen. Sie beabsichtigte, bei ihrer Tante Charlotte unterzukommen, was ihr Vater ihr schon vor geraumer Zeit geraten hatte. Sie hatte die Männerkleidung gegen ihre normale getauscht, nur das kurzgeschnittene Haar verlieh ihr noch Ähnlichkeit mit dem Tischlerlehrling. Sie trug deshalb einen ausladenden Strohhut.
    Im vollbesetzten Abendzug war es ungewohnt still, die Stimmung gedrückt. Die Reisenden wirkten niedergeschlagen. Aber es lag noch etwas anderes in der Luft – ein Misstrauen, so dass die Menschen kaum zu atmen wagten, geschweige denn zu hüsteln oder etwas zu sagen, weil sie fürchteten, damit auf sich aufmerksam zu machen. Jeder hoffte, unsichtbar zu sein, jeder argwöhnte, der neben ihm Sitzende könnte ein Spitzel sein, der für die Deutschen arbeitete. Die vierzig Jahre andauernde Besatzung hatte die Menschen voneinander entfernt, jeder sah in jedem eine Bedrohung.
    Wenn deutsche Uniformierte ein Abteil betraten oder im Gang des Zugs erschienen, verkroch sich jeder hinter seiner Zeitung oder sah ausgiebig aus dem Fenster. Adèle fand, durch dieses Verhaltern wirkten alle so, als hätten sie tatsächlich etwas zu verbergen. Sie überlegte, wie sie sich selbst und ihre Landsleute empfunden hätte, wenn sie Besatzungsbeamter gewesen wäre. Vermutlich hätte sie nach denen Ausschau gehalten, die sich am unsichtbarsten zu machen versuchten, und diejenigen, die sich unbefangen und spontan verhielten, gar nicht beachtet.
    Und wie fühlten sich die Deutschen selbst? War es vorstellbar, sich in einem Land heimisch zu fühlen, dessen Bewohner mit Angst, Ablehnung und Hass reagierten? Was trieb sie überhaupt dazu, dem Angebot ihrer eigenen Regierung nachzukommen, mitsamt ihren Familien nach Elsass oder Lothringen zu gehen und dort Häuser und Wohnungen zu beziehen, in denen zuvor französische Familien gewohnt hatten, die ihnen weichen mussten? War ihnen bewusst, was sie taten, oder wurden sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dazu veranlasst?
    Adèle nahm ihren Hut ab und sah sich im Abteil um, blickte von einem Mitreisenden zum anderen,

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