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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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noch aus. Die nächsten Zeilen waren geschwärzt und nicht lesbar. Dannfolgte der abschließende Satz: »Ich hoffe, die Militärzensur öffnet diesen Brief nicht.«
    Offenbar hatte sie es doch getan.

Rogér
    Helène von Schwemer stieg von Berlin kommend um 12 Uhr in Nancy aus dem Zug und blieb verwundert auf dem Bahnsteig stehen. Sie sah sich um und überlegte für einen Moment, ob es besser wäre, wieder einzusteigen: Das um die Mittagszeit stets überfüllte Bahnhofsgebäude war menschenleer. Doch auf dem weißen Emailleschild stand unzweideutig: Nancy. Schließlich entdeckte Helène doch jemanden: Ein schwerfällig schlurfender, älterer Gepäckträger trottete vom anderen Ende des Bahnsteigs auf sie zu. Wortlos lud er ihre Koffer auf seine Karre und fragte dann, wohin er das Gepäck bringen solle. Sie wolle zum Bahnhofsvorplatz, wo die Kutsche auf sie warte, um sie nach Lagarde zu bringen, erwiderte Helène.
    Der Mann warf ihr einen müden Blick zu, murmelte etwas Unverständliches und hob die Deichsel der Gepäckkarre an. Helène folgte ihm zum Ausgang der Bahnhofshalle. Sie war für einige Wochen in Berlin gewesen, um dort eine neue Hausdame einzustellen, die sich während der Abwesenheit der Eltern um Karl und Adalbert kümmern sollte: Der Freiherr war auf dem Weg nach Togo, Helène wurde dringend in Lagarde gebraucht. Die Berichte über die politischen Verwicklungen hatten sie zwar beunruhigt, die Reise war jedoch unaufschiebbar: Der alte Rogér war erkrankt, das Gutshaus seit Wochen unbewohnt, Helène musste nach dem Rechten sehen und eine dauerhafte Lösung für die Verwaltung des Anwesens finden.
    Die Frage nach dem Grund für die ungewohnte Menschenleere beantwortete der Gepäckträger, indem er auf ein Plakat deutete, das an einem verbretterten Zeitungskiosk angebracht war, an dem sie gerade vorübergingen. Mit Datum 31. Juli stand dort: »Mit dem heutigen Tag wird über Elsass-Lothringen auf unbestimmte Zeit das Kriegsrecht verhängt. Es gilt bis auf weiteres die Ausgangssperre. Der Standortkommandant.«
    »Das ist ja heute!«, sagte Helène, die durch die lange Zugfahrt ein wenig das Zeitgefühl verloren hatte und bemerkte, dass fast alle freien Flächen des Bahnhofsgebäudes mit ebendiesem Plakat beklebt waren. »Und niemand darf auf die Straße?«, fragte sie ungläubig den Mann, der einen Kopf kleiner war als sie und Mühe hatte, den schwerbeladenen Karren zu ziehen. »Doch, ich«, antwortete er.
    »Und wer noch?«
    »Alle, die eine Sondererlaubnis bekommen haben.«
    »Gehören Kutscher auch dazu?«
    Die Antwort erledigte sich von selbst, als sie den Bahnhofsvorplatz betraten und dort, wo sich normalerweise eine Kutsche an die andere reihte, keine einzige zu sehen war. Helène setzte sich entmutigt auf einen ihrer Koffer, sah zu dem Gepäckträger auf und fragte: »Und nun? Wie komme ich nach Lagarde? Können Sie mich hinbringen?«
    Der Mann lachte und entblößte seinen fast zahnlosen Mund. »Kein Problem! Aber ich glaube, es wäre etwas unbequem für Sie auf den Koffern, Madame …!«
    Hinter Helène lachte noch jemand, eine tiefe, raue Männerstimme. Sie sah sich erstaunt um und erblickte Johann von Drewitz, der, von drei Uniformierten eskortiert, direkt hinter ihr stand. »Ihren Humor fand ich schon immer wunderbar! Es scheint nichts zu geben, was Sie aus der Fassung bringen kann, meine Liebe«, sagte er. »Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es Humor ist oder Naivität, in solchen Zeiten hierherzukommen. Darf ich Ihnen zu Diensten sein?«
    Sie blieb auf dem Koffer sitzen, während er ihre Hand ergriff und sie galant an seine Lippen führte. »Sie sind noch schöner geworden seit unserer letzten Begegnung! Wie kann Richard Sie nur mutterseelenallein ins Feindesland reisen lassen? Er muss den Verstand verloren haben.«
    »Seit wann sind wir hier in Feindesland?«, erwiderte Helène. »Als ich in Berlin in den Zug stieg, war davon nicht die Rede.«
    »Wir leben in verrückten Zeiten, nicht wahr? Man schließt die Augen, und kaum öffnet man sie wieder, ist nichts mehr, wie es war – zack! Aber lassen Sie uns an das Nächstliegende denken: Ich glaube, der charmante Monsieur hier hat recht mit seiner Einschätzung, dass eine Fahrt nach Lagarde auf dieser Handkarre etwas unbequem für Sie sein könnte. Wenn es Sie nicht allzu viel Überwindung kostet, wäre es mir ein Vergnügen, Sie in meinem Automobil dorthin zu bringen. Ich verspreche Ihnen, Sie noch heute Nachmittag heil und gesund abzuliefern.

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