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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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die sofort ihre Augen niederschlugen oder den Kopf zur Seite wandten. Dann plötzlich sah sie ihr Spiegelbild in der Scheibe. Die wissbegierigen, großenAugen, die sie intensiv ansahen, jagten ihr einen Schreck ein, sie hätte sich beinahe von sich selbst abgewandt. Doch sie betrachtete sich eine ganze Weile, von Sekunde zu Sekunde wurde ihr das eigene Gesicht immer fremder. Sie drehte es, hob und senkte den Kopf, lächelte ihr Spiegelbild an, das zurücklächelte. Sie zog eine kleine Grimasse, dann noch eine, und noch eine. Ihre Stimmung besserte sich schlagartig, es war, als fiele eine Zentnerlast von ihr ab. Sie zog die Mundwinkel herunter, streckte ihre Zunge heraus und rollte mit den Augen.
    »Was macht die Frau da?«, fragte ein kleiner Junge, der auf den Beinen seines Vater auf einem Gangplatz saß und Adèle beobachtet hatte. Der Mann rückte seine Krawatte zurecht, schüttelte kaum merklich den Kopf und sagte: »Guck nicht hin.« Er hob das Kind an und drehte es in eine andere Blickrichtung. Adèle sah kurz zu ihm hinüber, er wich ihrem Blick aus. Dann widmete sie sich wieder ihrem Spiegelbild.
    Das Kind drehte und wand sich auf dem Schoß seines Vaters und versuchte, an ihm vorbeizuschauen. Als Adèle kurz mit den Ohren wackelte, eine Fähigkeit, die sie von ihrer Großmutter geerbt zu haben glaubte, die eine wahre Meisterin darin gewesen war, musste sie laut lachen. Die Gesichter der Mitreisenden drehten sich synchron in ihre Richtung, man starrte sie ungläubig an. Adèle spürte einen Übermut in sich heraufziehen wie schon seit langem nicht mehr. Sie kam aus dem Lachen nicht heraus. Jedes Mal, wenn sie versuchte, es zu beenden, kehrte es umgehend umso heftiger zurück. Schließlich lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und ließ dem Lachen freien Lauf.
    Das Kind rutschte von den Beinen seines Vaters herunter und drängte sich an den Knien der anderen Reisenden vorbei zu Adèle, bis es vor ihr stand und sie mit offenem Mund staunend ansah. Als Adèle sich wieder beruhigte und ihre Augen öffnete, bemerkte sie den Jungen und beugte sich zu ihm vor. »Mach das noch mal«, sagte er, »das mit den Ohren.«
    Adèle beugte sich noch etwas näher zu ihm herunter und wackelte mit den Ohren. Der junge Mann, der ihr gegenüber saß, hielt eine Hand vor den Mund und begann leise zu prusten.
    »Wie geht das?«, fragte das Kind.
    »Das ist eine Geheimwissenschaft. Erst muss man die Zunge an den Gaumen pressen, dann die Wangen etwas einziehen, und dann die Kopfhaut vor und zurück bewegen. Mach mal.«
    Der Junge konzentrierte sich, Adèle sah ihm aufmerksam zu, dann klatschte sie in die Hände: »Du hast es geschafft! Sie haben tatsächlich gewackelt. Zeig es mal den Herrschaften …«
    Das Kind strahlte und drehte sich um. Gebannt beobachteten die fünf Reisenden, wie der Junge erst die Zunge an den Gaumen presste, dann die Wangen einzog und schließlich die Kopfhaut bewegte, was dazu führte, dass am Ende sein ganzes Gesicht in Bewegung geriet. Es war der junge Mann, der zuerst die Beherrschung verlor, Sekunden später hallte das Abteil vom Lachen der Reisenden wieder. Danach gab es anhaltenden Applaus für den Jungen, der rot wurde und sich auf den Schoß seines Vaters flüchtete. Von dort sah er zu Adèle hinüber, die sagte: »Ich wusste, du kannst es! Du gehörst zu den Auserwählten! Üb fleißig weiter, am besten abends im Bett.«
    *
    Verdun war voller Gerüchte. Die Tante, die nicht zur Bewegung gehörte und auch nicht wusste, dass ihr Bruder und seine Tochter auf den Fahndungslisten standen, freute sich über Adèles Besuch. Die hatte sich entschieden, ihr nichts davon zu erzählen. Sie fühlte sich unwohl dabei, hielt es aber für besser, was sich als richtig erweisen sollte.
    Der französische Aufmarsch zur Befreiung des besetzten Elsass-Lothringen verlief so unauffällig wie möglich, da jedoch viele junge Männer der Stadt und aus der Umgebung zum Militär eingezogen wurden, ließen sich die Vorbereitungen nicht gänzlich geheim halten.
    »Hier in Verdun haben wir von den Deutschen kaum etwas gespürt«, sagte Tante Charlotte, als sie einige Tage nach Adèles Ankunft beim Abendessen saßen. »Wir leben ja am Rand des besetzten Gebietes; das Gefühl, ein Franzose zu sein, ist hier ungebrochen.«
    »Das kann man von uns nicht sagen. Es gibt viele, die weder die Franzosen noch die Deutschen wollen.«
    »Dann doch lieber die Franzosen, oder? Es gibt ohnehin kein Zurück mehr, es ist eine Frage von

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