Zeitenlos
Seinen Arm um mich gelegt erzählte er, was dann geschehen war.
»Als ich zum zweiten Mal das Bewusstsein verlor, sagte Dr. Thomas zu dir, dass es nicht gut aussähe. Du hattest erneut angeboten, mir Blut zu spenden, aber Dr. Thomas wusste, dass das nichts bringen würde und du sofort meine Angehörigen ausfindig machen müsstest.
Du bist zu der Straße zurückgegangen, in der der Unfall passiert war, und hast dich umgesehen. In der Nähe hast du eine kleine Buchhandlung entdeckt, die geschlossen war, obwohl sie zu dieser Zeit eigentlich hätte geöffnet sein sollen. Daraufhin hast du in den umliegenden Läden nachgefragt, und man hat dir erzählt, dass die Besitzerin nach ihrem Sohn sucht. Du hast ihre Adresse herausgefunden und dich auf den Weg dorthin gemacht.«
Während ich Wes zuhörte, begann ich zunehmend mich in Amelia einzufühlen. Ich hatte schon bald eine sehr klare Vorstellung von ihr, und die Geschichte wurde für mich immer nachvollziehbarer. Die Bilder waren so lebendig, ich hatte sie greifbar vor mir. Ich konnte seine Mutter und ihre Verzweiflung sehen, als stünde ich neben ihr. Amelias Geschichte war meine Geschichte. Ich schloss die Augen und hörte zu, während vor meinem geistigen Auge weitere Einzelheiten Gestalt annahmen.
Ich sah mich an Mrs Wilsons Tür klopfen. Kaum, dass Mrs Wilson geöffnet und meine Schwesterntracht erkannt hatte, packte sie mich auch schon am Arm und stellte aufgeregte Fragen: »Sie wissen, wo er ist, nicht wahr? Bitte, bitte sagen Sie mir, dass mit ihm alles in Ordnung ist.«
Sie war so von Angst erfüllt, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich kann Sie zu ihm bringen« war alles, was ich herausbrachte, worauf sie hektisch nach ihrem Mantel griff. Auf dem Weg zu Dr. Thomas’ Haus wich sie nicht von meiner Seite.
Dr. Thomas hatte Weston bis zum Hals in eine Decke gehüllt, sodass seine Mutter das Blut nicht sehen konnte, das sich an den verschiedensten Stellen unter seiner Haut sammelte. Er hatte auch die Wunden im Gesicht und am Hals neu verbunden, aber man konnte sehen, wie das Blut weiterhin durchsickerte. Als wir das Zimmer betraten, brach sie in Tränen aus.
»Nein!«, schrie sie. Sie legte den Kopf behutsam auf seine Brust, denn sie wusste sofort Bescheid. Ihr war klar, warum er zugedeckt war, und sie zog die Decke vorsichtig zurück, sodass die Blutergüsse an seinen Ellbogen, Handgelenken und am Körper zum Vorschein kamen. Überall hatten sie sich in ihren grausigen Farben ausgebreitet. »Was ist passiert? Was ist mit ihm passiert?« Sie zitterte. »Bitte, ich möchte wissen, was passiert ist!« Sie weinte.
Angesichts von Mrs Wilsons Qualen konnte ich nicht anders, als sie spontan zu umarmen. Sie lag weinend in meinen Armen, während ich behutsam versuchte, den Unfallhergang zu erzählen.
»Bitte? Ein Hund? Das alles wegen eines blöden Köters?« Sie fiel auf die Knie. »Was hat er alleine da draußen gemacht? Wo wollte er hin?« Mir fiel die Schachtel wieder ein, die wir aus seiner Jacke genommen hatten. Vielleicht würde sie die Erklärung sein.
»Mrs Wilson, ich glaube, dass er das für Sie gekauft hat«, sagte ich und gab ihr die Schachtel. Sie öffnete langsam den Deckel und wurde fast hysterisch, als sie das Armband erblickte. Sie stand auf und ging auf Dr. Thomas zu, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.
»Herr Doktor, Sie müssen ihm helfen. Er braucht Blut. Sie haben doch Blut, nicht wahr? Ich kann ihm aber auch meins geben. Er braucht es!«
Dr. Thomas legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Amelia hat ihm bereits Blut gespendet, aber seine inneren Blutungen sind zu stark. Es tut mir leid.«
Doch sie war zu allem entschlossen und ließ sich davon nicht beeindrucken. »Sie können ihn nicht sterben lassen. Sie sind Arzt . Bitte, Sie können ihn doch nicht einfach sterben lassen!«
»Es tut mir leid, es gibt nichts mehr, was ich tun kann.« Er ließ die Schultern hängen, und ich sah, dass seine Augen feucht glänzten. Er hatte in jenem Jahr schon viele Patienten sterben sehen, doch dieser Fall nahm ihn sichtlich mit.
»Es muss eine andere Möglichkeit geben!«, schrie sie ihn an. »Bitte, Herr Doktor! Ich habe bereits einen Sohn an diese Krankheit verloren, und seine Ärzte haben genau dasselbe gesagt. Bitte sagen Sie mir das nicht auch noch! Weston ist alles, was ich noch habe. Ich habe sonst niemanden mehr. Bitte!«
»Mrs Wilson, mehr Blut wird ihm nicht helfen.«
Sie schnitt ihm das Wort ab.
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