Zeitenzauber: Das verborgene Tor. Band 3 (German Edition)
alten hatte er behalten dürfen.
»Glaub mir, ich kann mich genau an sein Gesicht erinnern«, sagte er. »Es blieb nämlich immer gleich, auch nachdem ich meine Wut an ihm ausgelassen hatte.«
»Was hast du dem armen Kerl angetan?«
Darüber wollte er zuerst nicht reden, doch ich ließ nicht locker und erfuhr schließlich, dass er ihm die Arme ausgerissen und mit Filzstift Heul doch auf den Bauch geschrieben hatte.
»Die Arme hab ich ihm hinterher wieder drangemacht«, erzählte Sebastiano. »Aber den Filzstift kriegte ich nicht mehr ab.«
Ich wartete, bis ich nicht mehr kichern musste, dann ließ ich mir von Mrs Fitzjohn Mantel und Handtasche holen, um mit Sebastiano zu Mr Scott zu fahren.
Jerry schrak aus einem Nickerchen hoch, als wir zur Kutsche kamen und ihn begrüßten. Hastig kletterte er vom Kutschbock.
»Mylord! Mylady! Verzeihen Sie, ich bin eingedöst!«
»Das macht überhaupt nichts«, sagte ich. »Deine Nacht war bestimmt genauso kurz wie unsere.«
Na ja, vielleicht nicht ganz so kurz, korrigierte ich mich in Gedanken, denn Sebastiano und ich hatten ja vor dem Schlafengehen noch unsere Qualitäten als Unterwäschemodels getestet.
Jerry riss uns den Schlag auf. Bei Tageslicht sah man, dass sein Gesicht von Sommersprossen übersät war. Ich wusste zwar, dass er schon siebzehn war und auch den Stimmbruch bereits hinter sich hatte, aber er sah kaum älter aus als zwölf. Wie ein Junge, der eigentlich noch in die Schule gehörte.
»Das ist übrigens Jacko, der Groom .« Er deutete auf einen dürren ältlichen Typen, den ich bis jetzt gar nicht gesehen hatte, weil er auf einem Trittbrett hinter der Kutsche stand. Jacko trug eine blaue Livree und hatte ein Gesicht wie ein Schrumpfkopf. Was ein Groom tat, konnte ich allerdings nur raten. Fürs Erste setzte ich das Wort einfach auf die Liste.
Die Fahrt vom Grosvenor Square zur Bond Street dauerte nicht lange, eigentlich hätten wir ohne Weiteres zu Fuß gehen können, doch inzwischen hatte ich gelernt, dass eine adlige Dame nicht einfach durch die Stadt marschierte, das war ganz schlechter Stil. Entweder bewegte sie sich per Kutsche fort oder zu Pferde (selbstverständlich im sittsamen Reitkostüm und im Damensattel), oder sie bestellte sich eine Sänfte oder einen Tragstuhl, wenn sie nur mal eben ein paar Straßen weiter wollte. Natürlich durfte sie, wenn sie spazieren oder shoppen gehen wollte, auch zu Fuß durch die Straßen bummeln, aber bloß in einem bestimmten Umkreis, zu bestimmten Tageszeiten und auf gar keinen Fall ohne Diener oder familiäre Begleitung.
Die Buchhandlung von Mr Scott war im Erdgeschoss eines gediegenen Backsteinhauses untergebracht. Drei Stufen führten zu der Tür hinauf, vor der ein altmodischer Glockenzug hing, und in den beiden schmalen, hohen Schaufenstern waren einige Bücher ausgestellt, zu meinem Entzücken auch welche von Jane Austen und Lord Byron. Jerry hielt Sebastiano und mir höflich die Tür zu dem Laden auf, während der Groom auf den Kutschbock stieg. Damit war auch geklärt, was sein Job war – irgendwer musste sich ja als Aufpasser betätigen, schließlich konnte man bei einer Kutsche nicht einfach den Schlüssel abziehen und einen Parkschein aufs Pferd legen.
Außerdem wusste ich inzwischen, was eine Remise war, nämlich eine Art Kutschen-Garage, meist neben den Ställen, in denen die Pferde untergebracht waren. Richtig reiche Leute hatten eigene Remisen und Ställe, und offenbar gehörten die Foscarys – also Sebastiano und ich – auch zu diesem erlauchten Kreis. Reginald hatte es beiläufig erwähnt, auf die Weise hatten wir davon erfahren: »Verteufelt gute Pferde in deinem Stall, Sebastian. Besonders die beiden Grauen! Wir müssen bald zusammen ausreiten. Oder mit dem Phaeton fahren – ein schnittiges Gefährt! Dafür lässt du sicher jederzeit die anderen Wagen in deiner Remise stehen!«
Die Buchhandlung war ein einziger Dschungel aus Regalen, die von allen Seiten in den Raum hineinragten, sodass man sich im Slalom hindurchbewegen musste.
»Großvater, wir sind da!«, rief Jerry.
»Komme schon.« Hinter einem der Regale kam ein schmächtiger grauhaariger Mann hervor. Mr Scott war um die sechzig und trug einen dunklen Anzug mit würdevoll hochgebundener Krawatte. Seine grauen Haare standen ein wenig unordentlich vom Kopf ab, genau wie bei Jerry – das Zerzauste schien in der Familie zu liegen. Aber das war nicht das Erste, was einem an ihm auffiel, sondern sein Holzbein. Es klackte
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