Zeitenzauber: Das verborgene Tor. Band 3 (German Edition)
müssen. Das war das Blöde an diesen Jobs: Man traf nette Leute und musste sich irgendwann für immer von ihnen verabschieden.
»Wo soll’s hingehen, Mylord?«, wollte Jerry wissen.
Sebastiano, schon mit einem Bein in der Kutsche, drehte sich zu ihm um.
»Nach Spitalfields.«
»Oh. Sie wollen …«
»Ja«, sagte Sebastiano ruhig. »Mr Marinero wartet dort auf uns.«
Jerry sah bestürzt aus, viele Fragen standen in seinen Augen, aber er sagte nichts weiter, sondern warf den Schlag zu und nahm seinen Platz auf dem Kutschbock ein. Gleich darauf ließ er die Peitsche knallen, und das Pferdegespann setzte sich in Bewegung. Bald rollte die Kutsche in stetigem Tempo durch die Straßen der City in östlicher Richtung. Ich lehnte mich stumm an Sebastianos Schulter. Mit einem Mal hatte ich den Kopf voller Sorgen.
Im Tageslicht sah es in Spitalfields noch trostloser aus als bei Nacht. Die schäbigen Häuser waren von dem stinkenden Qualm der Kochfeuer umnebelt, der aus allen Ritzen quoll, und die Leute waren so ärmlich gekleidet, dass ich am liebsten sofort ausgestiegen wäre und mein restliches Geld verteilt hätte; vor allem an die Kinder, von denen manche so blass und abgemagert waren, dass es mir das Herz zusammenschnürte. Sebastiano schüttelte jedoch bedauernd den Kopf, als ich vorschlug, einige Münzen zu verschenken.
»Dann hätten wir gleich Hunderte von Bettlern am Hals und kämen niemals bei der Kirche an.«
Die ganze Umgebung wirkte schmutzig und verwahrlost. Einmal kamen wir an einer Fabrik vorbei, aus der ohrenbetäubender Lärm schallte. Wer da drin arbeitete, musste über kurz oder lang schwerhörig oder taub werden.
»Wahrscheinlich eine Weberei«, antwortete Sebastiano auf meine Frage, was hier wohl produziert wurde. »Und der Krach kommt von Dampfmaschinen.«
Richtig, davon hatte ich gelesen. In dieser Epoche war man mithilfe der Dampfmaschine in ein neues Zeitalter vorgestoßen – das der Industrialisierung und der Massenproduktion. Auf Kosten der armen Menschen, die sich dafür kaputtschuften durften.
José wartete an der kleinen Kirche auf uns. Er wirkte ungewöhnlich grimmig, sein Gesicht sah noch zerfurchter aus als sonst.
»Was ist los?«, wollte Sebastiano wissen.
José schüttelte nur kurz den Kopf und blickte zu Jerry, der dem Groom den Kutschbock überlassen hatte und mit uns zur Kirche gekommen war. Solange der Junge dabei war, konnte José nicht offen mit uns reden.
Doch Jerrys Aufmerksamkeit war gerade anderweitig beansprucht. »Oje«, sagte er alarmiert. »Da ist die Frau wieder. Sie kommt direkt auf uns zu.«
Ich drehte mich um, und tatsächlich – Molly Flanders kam mit breitem Lächeln auf uns zu gesegelt. Diesmal war sie ganz in Pink, und auf den hochgetürmten Locken hatte sie ein Gebilde aus gewaltigen Straußenfedern sitzen.
»Halt sie uns vom Hals«, sagte José zu Jerry. Er drückte dem Jungen ein paar Geldstücke in die Hand, dann schloss er die Kirchenpforte auf. »Folgt mir«, sagte er über die Schulter zu Sebastiano und mir.
»Aber …« Jerry hob zu einem Protest an, doch José war bereits in die Kirche gegangen.
»Wenn das nicht der rothaarige junge Gentleman von neulich ist«, hörten wir Molly noch fröhlich rufen, da zog Sebastiano auch schon die Kirchentür hinter uns zu und verriegelte sie auf Josés Geheiß sorgfältig.
»Willst du uns jetzt vielleicht erzählen, was passiert ist?«, fragte er.
José war zu der Säule vorausgeeilt. »Lasst uns erst mal springen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ihr müsst zurück, bevor es nicht mehr geht.«
»Bevor es nicht mehr geht?«, wiederholte ich erschrocken. »Wieso sollte es denn nicht mehr gehen?«
José hob jedoch nur wortlos die Hand und streckte sie neben der Säule in die Luft, worauf es um seine Finger herum anfing zu flimmern. Sebastiano zog mich an Josés Seite und umschlang mich fest mit beiden Armen, denn er wusste, wie sehr ich mich vor jedem Sprung ängstigte.
Die ganze Umgebung begann nun zu vibrieren, immer stärker, bis der Boden unter meinen Füßen auf und ab schwankte. Ein Rütteln erfasste mich, um mich herum dröhnte es, ich spürte die gewaltige Kraft des Zeitensogs bis in mein tiefstes Inneres. Dann kam die Kälte dazu, die so eisig und unheimlich war wie nichts anderes auf der Welt, jedenfalls nichts von natürlichem Ursprung. Das Dröhnen wurde lauter, das flimmernde Licht wurde blendend hell und stach sogar durch meine fest geschlossenen Lider. Gerade, als ich glaubte,
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