Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Mittagszeit ließ sich auch Opa Henri blicken. Auf seinen Stock gestützt kam er in den Salon gehumpelt und schaute mir neugierig in die Karten.
»Na, wer gewinnt denn?«
»Ich«, teilte Marie ihm vergnügt mit. »Aber Anna war ein paar Mal sehr nah dran, mich zu schlagen.«
Das sagte sie nur, um mich nicht ganz so blöd dastehen zu lassen. In Wahrheit hatte ich jedes Mal haushoch verloren.
Opa Henri zwinkerte uns zu. »Wollt ihr denn den lieben langen Tag Karten spielen? Das Wetter ist so herrlich! Wie wäre es mit einer Kutschfahrt in den Bois de Boulogne? Soll ich anspannen lassen?«
»O ja!« Marie klatschte erfreut in die Hände. »Das ist eine wundervolle Idee, Grandpère ! Wir können dort draußen ein Picknick machen!« Dann blickte sie mich stirnrunzelnd an. »Aber vorher musst du dich noch umziehen. In diesen alten Sachen läufst du mir nicht mehr herum!« Sie schleppte mich in ihr Gemach und steckte mich in ein sonnengelbes Kleid, das mir genauso tadellos passte wie das, was ich am Vorabend getragen hatte. Wie sich herausstellte, hatte die Schneiderin inzwischen alle Gewänder, die Marie für mich herausgesucht hatte, entsprechend gekürzt. Außerdem hatte Marie ein anderes Zimmer für mich herrichten lassen, direkt gegenüber von ihrem eigenen. Es war mit zierlichen, edlen Möbelstücken eingerichtet, inklusive einem verschnörkelten venezianischen Spiegel. Die Wände waren mit cremefarbener Seide tapeziert, und von den Pfosten des Himmelbetts hingen bestickte Volants. Es war ein Zimmer wie für eine Märchenprinzessin, all dieser Luxus kam mir schon beinahe unwirklich vor. Ich bedankte mich mehrfach bei Marie, doch sie wollte davon nichts hören.
»Du bist wie eine Schwester für mich!«, sagte sie, und es schien ihr durchaus ernst damit zu sein. Weil ich wusste, dass dieses Gefühl aus ihrem Unterbewusstsein stammte, bekam ich prompt wieder ein schlechtes Gewissen, denn ich konnte sie wirklich gut leiden. Für Marie und Opa Henri schien es ganz selbstverständlich zu sein, mit mir gemeinsam in ihre vierspännige Kutsche zu steigen und mich auf einen Ausflug ins Grüne mitzunehmen.
Sobald wir das westlich gelegene Stadttor passiert hatten, ging die Fahrt zügig voran, und weil die Kutsche gut gefedert war, konnte man das Holpern der Räder problemlos aushalten. Der Kutscher ließ auf gerader Strecke ab und zu die Peitsche knallen, dann ging es noch schneller. Außerhalb der Stadtmauern erstreckte sich nahezu unberührte Natur. Durch das offene Fenster der Kutsche sah man da und dort ein kleines Gehöft, aber die Zeichen der Zivilisation waren hier draußen dünn gesät.
Während der Fahrt döste Opa Henri ein, und auch ich merkte, dass mir die Augen zufielen. Irgendwann schlief ich ein und versank in einem schrecklichen Albtraum: Ich rannte durch die Nacht und wurde von einem gesichtslosen Mörder verfolgt. Ich lief und lief und konnte ihm doch nicht entkommen, sosehr ich mich auch anstrengte. Mein Nacken juckte und brannte wie verrückt, der Mörder war ganz nah!
Schließlich fuhr ich mit einem keuchenden Atemzug hoch. Mein Nacken juckte immer noch, so stark hallte der Traum in mir nach. Es wollte gar nicht aufhören, auch das Gefühl der Verfolgung hielt an, sodass ich besorgt aus dem Fenster schaute, ob irgendwer uns folgte. Doch da war niemand. Marie, die in einem Buch las, blickte mich leicht befremdet an. »Ist alles in Ordnung, Anna?«
»Alles bestens«, behauptete ich. »Ich habe bloß was Verrücktes geträumt.«
»Das geht mir auch oft so«, bekannte sie. »Erst letzte Nacht bin ich im Traum in einen seltsamen, riesigen hohlen Vogel gestiegen, der sich in die Lüfte erhoben hat und über die Meere flog.«
Ich musste seufzen, als ich das hörte. Bei Marie schienen sich die Erinnerungen an ihr früheres Leben mit ihren Träumen zu vermischen. Hoffentlich war es wenigstens ein schöner Traum gewesen.
Bald darauf erreichten wir unser Ziel. Der Bois de Boulogne war ein großer, teilweise parkähnlicher Wald. Auf einer von Vogelgezwitscher erfüllten Lichtung hielten wir an und schlenderten gemeinsam zu einem malerischen kleinen See. Hier und da sah man Leute spazieren gehen, die allesamt ziemlich betucht aussahen und sich hier draußen fernab vom Gestank der Stadt eine schöne Zeit machten. Ein junges Paar ließ sich in einem Boot über den See rudern. Am Ufer tollte ein kleiner Junge mit seinem Hund herum, beaufsichtigt von einer streng dreinblickenden Gouvernante. Marie breitete eine
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