Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Fremdheit, der am Anfang noch so überwältigend und verstörend gewesen war, hatte deutlich nachgelassen. Dass die knatternden Motorboote fehlten, fiel mir kaum noch auf. Autos gab es auch in der Zukunft keine in der Stadt, von daher waren die Unterschiede gar nicht so riesig. Nur abends, wenn es dunkel wurde, fiel es einem deutlicher auf, dass man sich in der Vergangenheit befand. Das Fehlen jeder elektrischen Beleuchtung war immer noch äußerst gewöhnungsbedürftig. Fackeln und Windlichter waren eben doch nicht dasselbe wie Laternen und helle Schaufenster.
»Da drüben ist es«, sagte Gino. Am Fuß der hölzernen Rialtobrücke blieb er stehen.
Tatsächlich, in der Nähe des Brückenaufgangs war eine Schar Arbeiter damit beschäftigt, Fundamente zu legen. Fasziniert betrachtete ich die Baustelle. Man hatte sie vollständig eingedeicht, sodass kein Wasser sie überspülen konnte. Ringsum türmte sich ein Wall aus Holz, Erde und Steinen auf und in der so entstandenen Grube arbeiteten die Männer an dem Gebäude. Hunderte von Pfählen ragten aus dem schlammigen Untergrund in die Höhe. Dazwischen war eine Schicht quer liegender Balken angebracht worden, auf denen das Mauerwerk ruhte. Die fertigen Ziegelreihen hatten bereits eine Höhe erreicht, die oberhalb der Wasserlinie lag. An der breiten Aussparung zur Kanalseite hin konnte man erkennen, wo sich später das Wassertor befinden würde.
Zwei Arbeiter waren emsig dabei, die hintere Wand des künftigen Wassersaals hochzuziehen. Die anderen Männer der Baukolonne beschäftigten sich mit dem Aufmauern der Außenwände.
Ich sah mir alles genau an, bis meine Blicke schließlich an der hinteren Wand des Wassersaals hängen blieben. »Da wäre die Nachricht sicher gut aufgehoben«, sagte ich geistesabwesend.
»Soll ich sie einem dieser Männer überbringen?«, fragte Gino.
»Na ja«, sagte ich. »Eigentlich ist die Nachricht eher für … später.« Ich überlegte, wie praktisch es doch jetzt wäre, wenn die Bauarbeiter allesamt zum Mittagessen verschwinden würden, damit ich Gelegenheit bekam, in aller Ruhe mein Wachstuchpäckchen an geeigneter Stelle zu verstecken. Ich konnte ja schlecht über eine der Leitern vom Deich in die Grube steigen und dann sagen: »Sorry, Jungs, aber ich muss hier mal eben nach einer schönen Stelle suchen, wo ich den Brief hintun kann, lasst euch nicht bei der Arbeit stören.«
Angestrengt dachte ich nach, wie ich möglichst unauffällig den Brief verstecken konnte, obwohl gerade all diese Typen dort herumwuselten. Die Lösung war im Grunde ganz einfach: Es ging nicht.
Mutlos starrte ich in die Baugrube. Dann atmete ich durch. So schnell durfte ich nicht aufgeben! Es musste irgendwie zu machen sein! Schließlich hatte Mr. Bjarnignokki den Brief in der Zukunft gefunden, oder etwa nicht?
Während ich noch über dieses Dilemma nachsann, meldete sich Gino zu Wort. »Soll ich oder soll ich nicht?«, fragte er. Ihm war die Sorge anzusehen, dass ihm die letzte Rate seines Verdienstes durch die Lappen gehen könnte.
»Die Sache ist die«, sagte ich zögernd, während ich ihm das Päckchen zeigte. »Ich muss die Nachricht in der Baustelle verstecken. Und zwar so, dass sie dort … aufbewahrt wird.«
»Eine Nachricht, die niemand bekommen soll?« Ginos sommersprossiges Gesicht verzog sich zweifelnd.
Jedenfalls nicht die nächsten fünfhundertzehn Jahre, wollte ich sagen, doch anscheinend unterfiel das der Sperre, denn ich konnte es nicht aussprechen.
»Ah«, sagte Gino. »Jetzt verstehe ich! Es ist eine Art Schutzzauber, oder? Ich hörte schon von Leuten, die so etwas machen. Beim Bau eines neuen Hauses opfern sie Tiere und vergraben sie im Fundament.« Er beäugte das Päckchen. »Ist da ein totes Tier drin?«
»Nein, nur ein Brief.« Dankbar griff ich seine Idee auf und fügte hinzu: »Ähm, so eine Art Schutzzauberbrief.«
»Und der soll da vergraben werden?«
»Ja, aber so, dass kein Wasser drankommt, sonst wirkt er nicht. Er muss erhalten bleiben, solange das Haus steht.«
»Dann sollte er in eine Wand eingemauert werden«, überlegte Gino.
»Genau«, pflichtete ich bei. »Ich dachte an die hintere Wand des Wassersaals. Wenn man das irgendwie hinkriegen könnte …« Aufmerksam musterte ich ihn. »Ich gebe dir das Doppelte von dem, was du schon bekommen hast, wenn du eine gute Idee hast, wie es sich machen lässt.«
»Wirklich?« Er musterte mich erfreut. »Nichts leichter als das. Gebt her.« Er nahm mir das Päckchen aus
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