Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
»Natürlich war es kein Versehen, wie du dir denken kannst. Die Umstände geboten es, also musste ich dich verschonen. Obwohl ich wirklich der Meinung war, dass man dich genauso gut in den Kanal hätte werfen können. Mit dem Sack über dem Kopf.«
Ich überwand meine Starre. Es kam mir so vor, als wollte er sich mitteilen, warum sollte ich die Gelegenheit nicht ausnutzen? Es konnte nicht schaden, Informationen über den Feind zu bekommen, und wenn der Feind sie einem auch noch selbst erzählen wollte, umso besser. Mir war schon vorher klar gewesen, dass es für sein Verhalten Gründe geben musste und ich brannte darauf, sie zu erfahren.
»Welche Umstände geboten es?«, platzte ich heraus.
»Angeblich brauchen wir dich noch. Ebenso wie Trevisan. Zur Beseitigung eines wichtigen Problems.«
»Wer sagt das? Dein sogenannter Herr?«
Er starrte mich an. »Ich bin mein eigener Herr!«
»Ach ja? Und wer hat dann bestimmt, dass ich Probleme beseitigen helfen soll? Mal abgesehen davon, dass ich keine Lust dazu habe und du und dein Herr deshalb lange darauf warten könnt.« Es sollte cool klingen, aber meine Stimme zitterte.
Alvise merkte es und lachte. »Du dummes Ding. Glaubst du etwa, du kannst es beeinflussen? Du lebst noch, weil du dabei helfen wirst, jemanden zu töten.«
Entgeistert blickte ich ihn an. »Du hast sie nicht mehr alle! Glaubst du ernsthaft, so was mache ich?!«
»Wenn es so weit ist, wirst du es tun, so ist es vorhergesagt.«
»Von wem denn?«, fragte ich betont beiläufig, in der Hoffnung, er würde es einfach so aus Versehen verraten. Sebastiano hatte gesagt, dass es jemanden geben musste, der Alvise bei seinen Zeitreisen half. Es musste sich um einen Bewahrer handeln, denn nur sie waren dazu in der Lage und wussten auch, was in der Zukunft passieren würde, inklusive der geänderten Zeitabläufe, weil sie das in ihren magischen Spiegeln sehen konnten.
»Das möchtest du wohl gerne wissen, was?«, meinte Alvise. Höhnisch schüttelte er den Kopf. »Im Augenblick deines Todes wirst du es erfahren. Vielleicht.«
Erst als er einen Schritt auf mich zutrat, bemerkte ich, dass er seinen Dolch gezogen hatte. Bevor ich zurückweichen konnte, hatte er mich erreicht und stand so nah bei mir, dass sein Wams die Zipfel meines Gesichtsschleiers berührte. Wieder stieg mir sein Geruch in die Nase, Seife, saubere Wolle, Zedernholz. Am liebsten hätte ich einen Riesensprung rückwärts gemacht, um diesem verhassten Geruch zu entgehen, doch dann hätte ich im Kanal gelegen.
Einen Moment lang erwog ich ernsthaft, ein Bad in der Algenbrühe einer weiteren Unterhaltung mit Alvise vorzuziehen, doch er hielt mich fest, indem er die Enden des Tuchs packte, das ich mir um die Schultern geschlungen hatte. Das Messer schob er zwischen den Falten des Stoffs hindurch bis zu meiner Kehle.
»Du hast selbst gesagt, dass du mich noch brauchst.« Ich verabscheute mich für den flehenden Ton in meiner Stimme, doch ich konnte nichts dagegen tun. Hektisch blickte ich von links nach rechts. Jede Menge Leute waren am Ufer des Kanals unterwegs, einschließlich der Männer auf der Baustelle, doch niemand achtete auf uns. Alvise hielt das Messer geschickt verborgen.
»Klar brauche ich dich noch«, sagte er. »Aber niemand hat festgelegt, wie du dafür aussehen musst. Beispielsweise könntest du ein paar nette zusätzliche Luftlöcher in deinem hübschen Gesicht haben. Leben würdest du danach immer noch.« Die Spitze des Dolchs bohrte sich von unten gegen mein Kinn. »Wobei ich durchaus verhandlungsbereit bin. Sagen wir, ich schneide dich nicht und du verrätst mir dafür, durch welches Zeitportal Sebastiano beim letzten Mal gegangen ist. Oder wo du die Maske versteckt hältst.«
»Die habe ich verloren«, behauptete ich.
Gleichzeitig hörte ich eine verärgerte Stimme, die mir sehr bekannt vorkam. »Ach, hier bist du! Kaum bleibe ich einen Moment bei einem Verkaufsstand stehen, bist du auch schon verschwunden.« Das war Dorotea. Ich konnte sie zwar nicht sehen, weil sie hinter Alvise stand, aber sie kam wie gerufen, um mich zu retten.
»Dorotea, schön, dass du da bist!«, brachte ich mit gepresster Stimme hervor.
Im nächsten Moment tauchte sie in meinem Blickfeld auf. Ihre roten Locken wellten sich unter ihrem feinen gelben Seidenschleier hervor – gelb war anscheinend ihre Lieblingsfarbe – und sie war umweht von dem Duft, den Clarissa uns für das Fest bei Trevisan spendiert hatte. Offenbar hatte sie sich Nachschub
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