Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
der Hand und flitzte los. Verblüfft sah ich zu, wie er vom Rand des Walls auf die Baustelle kletterte und zu einem der Arbeiter ging. Er redete mit dem Mann und zeigte zwischendurch auf mich. Der Arbeiter folgte seinem Blick und ich widerstand dem Drang, zu verschwinden, doch der Arbeiter schien nur neugierig zu sein. Gino gab ihm das Päckchen und gleich darauf schwang der Mann seine Mörtelkelle (oder was immer man in dieser Zeit am Bau benutzte) und mauerte meine Nachricht in die gerade entstehende Ziegelreihe mit ein.
Gino kam gelenkig aus der Baugrube geklettert und strahlte mich an. »Erledigt.«
Ich konnte kaum fassen, dass es so leicht gegangen war. »Was hast du ihm gesagt?«
»Na, die Wahrheit. Dass Ihr einen Schutzbrief für das Haus bringt, der mit eingemauert werden soll.«
»Und das hat er einfach so gemacht?«
»Na ja, ich habe vorher gesagt, Ihr gebt ihm einen Soldo dafür. Das Geld habe ich vorgestreckt.« Gino grinste ein bisschen schief. »Und ich habe gesagt, der Schutzbrief wurde vom Bischof gesegnet. Nur, damit er nicht denkt, es wäre Hexenwerk.«
»Du bist ein kluger Bursche«, sagte ich bewundernd, während ich ein paar Münzen herauskramte. »Hier, für deine Auslagen und für deine Mühe.« Weil er mein Problem so elegant gelöst hatte, gab ich ihm deutlich mehr als ausgemacht. Wieder strahlte er bis zu den Ohren und ich freute mich, dass er sich freute. »Gino, du bist ein prima Kumpel!« Es kam als vorzüglicher Kamerad heraus, aber da wollte ich nicht kleinlich sein.
Er warf sich in die Brust. »Ich helfe Euch, wann immer Ihr mich braucht, Madonna.«
Mit einem Mal hatte ich das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Oder ihn wenigstens an mich zu drücken und ihm zu sagen, was für ein toller Junge er war. Dass er in eine miese, rückständige Zeit hineingeboren worden war, in der es keine Schule und kein Kindergeld gab, konnte ich ihm ja schlecht sagen.
Spontan schlug ich den Schleier zurück und lächelte ihn an. Dann fragte ich ihn, wo er wohnte. Nur für den Fall, dass ich tatsächlich noch einmal seine Hilfe brauchen würde.
»Im dritten Haus der Färbergasse hinter der Kirche Madonna dell’Orto«, sagte er, bevor er sich mit einem freundlichen Winken von mir verabschiedete. Ich sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war.
Bevor ich mich selbst auf den Weg machte, schaute ich noch einmal zu der Baustelle hinüber. Die Wand war um eine weitere Ziegelreihe gewachsen, das Päckchen sicher bis ins nächste Jahrtausend verstaut. Mindestens so lange, bis Mr. Bjarnignokki auftauchen und es finden würde.
Mit einem Mal fing es in meinem Nacken an zu jucken. Besser, ich machte mich aus dem Staub, bevor irgendwer vorbeikam, der mich erkannte. Außerdem fand ich, dass ich für diesen Tag wirklich eine Menge geleistet und eine kleine Pause verdient hatte, vor allem aber eine anständige Mahlzeit. Rasch wandte ich mich von der Baustelle ab und wollte gerade losmarschieren, als ich prompt in jemanden hineinlief, der sich anscheinend immer ausgerechnet dort aufhielt, wo ich am allerwenigsten mit ihm rechnete. Der Schreck fuhr mir in die Glieder und lähmte mich, sodass ich keinen Schritt mehr gehen konnte.
Alvise Malipiero stand vor mir und starrte mich an. Ich verfluchte mich innerlich, weil ich vergessen hatte, den Schleier wieder vorzulegen, dann wäre er vielleicht einfach an mir vorbeigegangen.
»Schau an«, sagte er gedehnt. »Mir scheint, du bist wieder ganz auf der Höhe.«
Ich schluckte und holte dann ruckartig Luft, um notfalls laut schreien zu können, falls er auf die Idee käme, mir hier vor allen Leuten etwas anzutun.
Doch er stand einfach nur da und blickte mich an mit diesen mitleidlosen dunklen Augen, unter deren Blick alles Lebendige zu Eis gefrieren konnte, wenn er es nur lange genug ansah. Jedenfalls kam es mir so vor, denn vorhin war mir noch richtig warm gewesen, aber jetzt fühlten meine Hände und Füße sich plötzlich kalt an. Natürlich lag es an der Angst, aber das machte es nicht weniger real.
Trotzdem mischte sich ein schwaches Gefühl von Zufriedenheit in meine Furcht, als ich bemerkte, dass mein S.O.N.G. nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Seine Nase war dick und rot geschwollen und in den Nasenlöchern klebte sogar geronnenes Blut
»Sicher hast du dich schon gefragt, warum du heil und an einem Stück wieder aufgewacht bist«, meinte Alvise in leutseligem Ton. Als ich stumm blieb, fuhr er ebenso gesprächig fort:
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