Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
eisigen Morgenluft, ich war nahe dran, vor Entsetzen zu schreien. Doch egal, wie laut und wie lange ich um Hilfe riefe – hier würde kein Mensch mich hören, denn die Lagune war verlassen.
In meiner Furcht hätte ich beinahe übersehen, dass es ganz in der Nähe eine Lichtquelle gab, die vorhin noch nicht da gewesen war. Und sie war wirklich sehr nah. Irritiert sah ich mich um, doch es dauerte weitere Sekunden, bis ich merkte, dass das Licht von mir kam. Genauer, von dem Beutel an meinem Gürtel. Es war, als würde dort drinnen eine weiße Lampe leuchten. Plötzlich brach gleißendes Licht daraus hervor und bildete eine strahlende Linie, die um mich herum in die Höhe wuchs und sich ausbreitete.
Die Katzenmaske macht das!, durchfuhr es mich. Die dünne Linie umschlang mich nun völlig und neben der eisigen Kälte fühlte ich das schon bekannte Rütteln. Unmittelbar darauf folgte der Knall, und mit ihm die Dunkelheit.
Ich kam wieder zu Bewusstsein, folglich war ich nicht in ein schwarzes Loch gefallen. Doch ich befand mich auch nicht mehr in der Ruinenlandschaft, das merkte ich sofort, noch bevor ich mich hochgerappelt hatte. Es war ein wenig heller als vorher, sodass ich gleich erkannte, wohin es mich verschlagen hatte: in dieselbe Gasse, in der ich schon zwei Mal gelandet war. Sie sah exakt genauso aus wie beim letzten Mal, ein Irrtum war ausgeschlossen. Ich war wieder in der Vergangenheit!
Der Ausflug in die schreckliche alternative Zukunft kam mir vor wie ein böser Traum. Vielleicht war es wirklich einer. Doch dann bemerkte ich meinen eingerissenen Nagel. Und den Staub von der Geröllhalde, der noch an meinen Fingern und meinem Kleid haftete.
Ich betrachtete den Beutel, doch er sah ganz harmlos aus. Dennoch hatte mir der Inhalt dieses harmlos aussehenden Dings das Leben gerettet! Heiße Dankbarkeit erfüllte mich. Wie gut, dass ich die Maske mitgenommen hatte! Es war wie eine zweite Chance. Ein Zeichen des Schicksals, dass ich vielleicht noch Einfluss auf die Stunde der Entscheidung nehmen konnte!
Wenn die Zeit hier normal weitergelaufen war – davon ging ich aus, nach allem, was ich wusste –, waren Sebastiano und die anderen jetzt auf dem Weg zur Giudecca. Möglicherweise waren sie sogar schon dort angekommen. Sofern ich überhaupt noch etwas gegen die drohenden Ereignisse unternehmen wollte, musste es sofort sein.
Ohne zu zögern, rannte ich los.
Es läutete zur Prim, als ich das Kurtisanenhaus erreichte. In die Morgendämmerung mischte sich bereits das erste Tageslicht. Hektisch trommelte ich an die Pforte und war erleichtert, als mir gleich darauf geöffnet wurde. Auf meine aufgeregten Bitten hin rannte die Magd sofort los, um Marietta zu holen.
»Ich brauche ein Boot und ich muss wissen, wo sich das Haus der Malipieros auf der Giudecca befindet«, empfing ich sie außer Atem.
Eines musste man ihr lassen, sie hielt sich nicht lange mit zeitraubenden Fragen auf, sondern scheuchte auf der Stelle ihren Ruderknecht in die Gondel, die vor dem Haus vertäut lag, während die Dienstmagd auf ihren Befehl hin zwei warme Umhänge holte, einen für Marietta und den anderen für mich.
»Es ist mir schleierhaft, wie du bei dieser Kälte so herumlaufen kannst«, tadelte sie mich, während der Bootsführer ablegte und zügig losruderte. »Warum bist du überhaupt wieder zurückgekommen? Ich dachte, Sebastiano wollte dich auf ein Schiff bringen, das dich nach Hause befördert!«
»Na ja, das tat er auch, aber das Schiff … ähm, es konnte nicht auslaufen. Und dann erfuhr ich, dass Sebastiano … dass er in Gefahr ist!« Ich wusste nicht, wie viel ich sagen konnte, ohne dass die Sperre mir die Worte wegbleiben ließ, also versuchte ich einfach mein Glück. »Die Malipieros haben Trevisan und Clarissa entführt. Sebastiano, José und Bartolomeo wollen sie befreien.«
»Ich weiß«, sagte Marietta. »Ich hatte ihnen sogar angeboten, ein paar Männer zur Verstärkung aufzutreiben, doch das lehnten sie ab.«
Verdutzt betrachtete ich sie. »Weißt du auch, dass Alvise …« Trevisan umbringen und die Zukunft ändern will , so sollte der Satz weitergehen, doch das kriegte ich nicht heraus. Also war sie nur teilweise eingeweiht. Umso dankbarer musste ich sein, dass sie so hilfsbereit war.
Doch bestimmt wäre sie mit ihrer Hilfe zurückhaltender gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass Alvise über Leichen ging, notfalls auch über ihre! Ich hatte kein Recht, sie auf diese Weise in Gefahr zu bringen.
»Wenn
Weitere Kostenlose Bücher