Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Sommerferien und war mit seinen Eltern nach Venedig gekommen, in der Hoffnung, das sei weniger langweilig als wochenlang zu Hause unter der Oberherrschaft seiner Tante herumzuhängen.
»Bei mir wäre es meine Oma gewesen«, sagte ich. »Da hatte ich auch keine Lust drauf.«
»Dann haben wir ja quasi dasselbe Schicksal. Was machst du tagsüber so in Venedig, wenn deine Eltern arbeiten?«
»Nichts Besonderes.«
Treffender konnte ich es nicht ausdrücken. Die ganzen bekannten Sehenswürdigkeiten hatte ich schon mit Mama und Papa abgeklappert, denn am Wochenende stand immer Kultur auf dem Programm. Unter der Woche zog ich allein los. Ich ließ mich einfach treiben und fuhr mit den Linienbooten durch die Gegend. Oder ich spazierte kreuz und quer herum, beobachtete die unzähligen Touristen und hielt Ausschau nach interessanten Läden.
»Hast du nachher schon was vor?«, fragte Matthias.
»Ähm … ja, ich wollte mich noch eine Runde aufs Ohr legen, ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen«, flunkerte ich.
»Und danach?«
»Weiß noch nicht.« Ich hatte es kaum gesagt, als ich es auch schon bereute. Es stand Matthias förmlich im Gesicht geschrieben, dass er überlegte, was wir alles gemeinsam unternehmen könnten. Also fuhr ich schnell fort: »Wahrscheinlich gehe ich Schuhe kaufen.«
Schuhe kaufen war reine Frauensache. Kein normal veranlagter siebzehnjähriger Typ würde mit einem Mädchen Schuhe kaufen gehen.
»Da könnte ich mitkommen«, sagte er eifrig. »Ich liebe es, Schuhe zu kaufen!«
Ich zuckte zusammen. »Meinetwegen«, sagte ich widerwillig. »Dann treffen wir uns in einer Stunde in der Lobby und gehen Schuhe kaufen.«
Schuhe konnte man immer brauchen, von daher kostete es keine allzu große Überwindung. Im Gegenteil. Zumal es in Venedig wirklich wundervolle Schuhläden gibt, mit Modellen, die man in Deutschland nicht an jeder Straßenecke findet. Leider sind auch die Preise nicht wie an jeder Straßenecke, außer man nimmt die Straßenecken von Venedig als Maßstab. Mit anderen Worten, es geht richtig ins Geld, in Venedig Schuhe zu kaufen. Aber ich hatte noch fast mein ganzes Geburtstagsgeld zur Verfügung, von zwei Großmüttern, einer Großtante, einem Patenonkel und natürlich von meinen Eltern, da kam ganz schön was zusammen. Seit ich vor zwei Jahren dazu übergegangen war, mir zum Geburtstag und zu Weihnachten nur noch Geld zu wünschen, waren auch mal teurere Anschaffungen drin, so wie der neue iPod, den ich mir kürzlich zugelegt hatte. Oder eben jetzt neue Schuhe.
Als ich aus dem Aufzug in die Lobby kam, stand Matthias schon am Ausgang, einen unsicheren Ausdruck im Gesicht, als fürchte er, ich hätte es mir anders überlegt. Als er mich sah, strahlte er bis zu den Ohren und ließ dabei überraschend weiße und perfekte Zähne sehen. »Da bist du ja!«
Das Hotel lag im Sestiere Dorsoduro, es war nicht weit bis zum Canal Grande. Wir gingen in Richtung Accademia. 1 Motorboote tuckerten vorbei und brachten das Wasser zum Schäumen. Die Sommerhitze lag schwer über dem Kanal und zauberte goldene Lichtreflexe auf die Wellen. Zu beiden Seiten des Ufers bildeten die edlen alten Palazzi eine prachtvolle Kulisse für das geschäftige Treiben, das auf dem Wasser herrschte.
»Oh, sieh mal«, rief ich. »Eine rote Gondel!«
Matthias reckte den Kopf. »Wirklich? Wo denn? Ich dachte, alle Gondeln in Venedig müssten schwarz sein.«
Dasselbe hatte man mir und meinen Eltern auch erzählt, gleich bei der ersten Stadtbesichtigung, zu der auch eine Gondelfahrt gehört hatte. Früher, so hatte der Stadtführer berichtet, habe es die venezianischen Gondeln in allen Farben gegeben. Bis der Große Rat der Stadt im Jahre 1633 ein Gesetz erließ, wonach alle Gondeln schwarz anzustreichen seien. Dieses Gesetz galt heute noch.
Wieso gab es dann eine rote Gondel auf dem Canal Grande?
Für einen Augenblick nahm ich an, ich müsse mich getäuscht haben, aber dann bemerkte Matthias sie auch.
»Na so was, da ist sie!«, rief er.
Sie trieb mitten auf dem Canal Grande an uns vorbei, gelenkt von dem Gondoliere, der auf der hinteren Abdeckung stand und das lange Ruder mit beiden Händen durchs Wasser zog.
Als die Gondel näher kam, stellte ich fest, dass der Gondoliere genauso ungewöhnlich aussah wie sein Boot. Anders als die übrigen Gondelführer in Venedig trug er nicht die Einheitstracht aus flachem Hut mit Flatterband, gestreiftem Hemd und dunkler Hose, sondern eine Art Turban und ein weites weißes Hemd,
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