Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
ob Luther überhaupt schon geboren war.
In der kleinen Backsteinkirche war es brechend voll, man stand dicht an dicht und konnte sich kaum bewegen. Obwohl die meisten Leute ihre besten und saubersten Sachen trugen, wäre ich von dem geballten Gestank der Menschenansammlung fast ohnmächtig geworden. Der Priester hielt die Messe in einer Art Sprechgesang ab. Die lateinische Liturgie empfand ich als fremdartig und einschüchternd, doch ich tröstete mich damit, durch meine Anwesenheit die internationale Ökumene zu unterstützen, bevor sie überhaupt erfunden war. Auf diese Weise brachte ich auch die beiden Sonntagsmessen bis zum anstehenden Mondwechsel hinter mich.
Und dann war es endlich so weit. Die zwei Wochen waren um.
In der Nacht vor dem großen Tag tat ich kaum ein Auge zu, so aufgeregt war ich. Clarissa schlief ebenfalls schlecht. Es frustrierte sie, dass ich abreiste, während sie selbst keine Aussichten hatte, in ihre Heimat zurückzukehren. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als ich ihr am nächsten Morgen das Geld gab. Im Gegenteil: Als sie erfuhr, dass ich es von Sebastiano bekommen hatte, war sie außer sich vor Ärger, weil er mir welches gegeben hatte, ihr dagegen nicht.
Ihr Zorn ließ nach, doch ihre Stimmung blieb gedrückt.
»Du wirst mir schrecklich fehlen«, sagte sie.
»Du mir auch«, versicherte ich und das war die reine Wahrheit.
Sonst würde ich sicherlich nichts von hier vermissen, weder das Haus noch Matilda noch diese ganze primitive Zeit. Aber Clarissa schon. Sie war eine echte Freundin. Wir hatten alles geteilt, nicht nur die viele Arbeit, die Hemden, den Nachttopf und das Bett, sondern auch das Schicksal, das uns in die Vergangenheit verschlagen hatte. Das schmiedete uns zusammen. Und dabei war es uns nicht einmal möglich, zum Abschied Auf Wiedersehen zu sagen, oder: Ich bin ja nicht aus der Welt.
Ich war aus der Welt, sobald die rote Gondel mich zurückgebracht hatte. Regional betrachtet, wäre ich nur einen Katzensprung weit weg. Aber mehr als fünfhundert Jahre in der Zukunft – das war nicht gerade um die Ecke.
»Du tust mir so leid, weil du all das hier noch aushalten musst!«, beteuerte ich Clarissa. »Aber irgendwann wird es auch bei dir klappen! Dann kannst du nach Hause und alles wird gut.« Zu gerne hätte ich sie noch vor Napoleon gewarnt, der mit französischen Revolutionsflüchtlingen wie Clarissa bestimmt nicht zimperlich umgehen würde, doch die Sperre verhinderte es. Stattdessen kam mir eine andere Idee. »Weißt du, ich finde, es kann nicht schaden, wenn du dich in der Zwischenzeit ein bisschen mehr an Bartolomeo hältst. Er ist ein netter Kerl und kann dich gut leiden. Warum geht ihr nicht mal zusammen aus?«
»Man wird sehen«, sagte sie vage.
Vor lauter fieberhafter Erwartung bekam ich beim Frühstück keinen Bissen von dem Hirsebrei herunter. Matilda musterte mich argwöhnisch. »Du bist ganz rot im Gesicht. Du wirst doch kein Fieber kriegen?«
»Nein, es ist alles in Ordnung. Ich war gestern wohl zu lange in der Sonne.«
Ich verriet ihr nichts von meinem bevorstehenden Aufbruch. Clarissa hatte mir empfohlen, einfach stillschweigend zu verschwinden. »Das ist besser so. Matilda regt sich sonst nur fürchterlich auf. Sie hat dich lieb gewonnen, weißt du.«
»Du meinst, als kostenlose Aushilfe?«
»Nein, eher als Mensch.«
Diesen Eindruck vermochte ich zwar nicht zu teilen, aber Clarissa kannte Matilda länger als ich, deshalb widersprach ich nicht.
Die Zeit bis zum Terzläuten – inzwischen wusste ich, dass das drei Stunden nach dem Primläuten war, also ungefähr neun Uhr morgens – tat ich so, als würde ich Clarissa in der Offizin helfen. Als dann endlich der sehnlich erwartete Glockenschlag ertönte, umarmte ich Clarissa hastig.
»Adieu«, sagte ich bewegt. »Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde und eine baldige Rückkehr in deine Zeit!«
Dann spurtete ich los, durch die Küche und an Matilda vorbei durch den Verkaufsraum ins Freie. Ich strengte mich an, nicht nach rechts oder links zu schauen, sonst hätte ich vielleicht doch noch angefangen zu heulen, vor allem, wenn ich Jacopo am Küchentisch gesehen hätte, wie er gerade an seiner neuen Heiligenfigur schnitzte.
Draußen, ein paar Schritte von der Eingangstür entfernt, stand Sebastiano.
Er blickte über meine Schulter hinter mich und schüttelte bedauernd den Kopf. »Du darfst nicht mitkommen, das weißt du.«
Ich drehte mich um und sah dort zu meinem Erstaunen Clarissa
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