Zeitfinsternis
Marcel verängstigt hatte, ihn zu dem Saarländer in der Kneipe und in seinen Tod gejagt hatte. Er wünschte, er wüßte, was das gewesen war.
Eines wußte er aber: Brieftauben hatten Berichte davon gebracht, daß flämische Truppen in großer Stärke in Lothringen eingefallen waren.
Nur wenige andere wußten von der Invasion, aber Napoleon gehörte sicherlich zu ihnen. Vielleicht war das der Grund, warum er in die Gegenrichtung marschierte. Dafür machte der Hauptmann ihm keine Vorwürfe; freiwillig würde er nie das Risiko auf sich nehmen, gegen ein Land zu ziehen, dessen Zauberer Drachen zustande brachten wie jenen, der den Saarländer gerettet hatte, als ihn nur noch Sekunden von seiner Gefangennahme trennten.
Napoleon XV. rannte davon, aber es sah so aus, als würde er sie dabei alle umbringen.
Der Wandschirm war angeschaltet, ohne Ton wie immer, als Sonya hörte, wie die Außentür ein paar Sekunden lang aufging und sich dann leise wieder schloß. Sie saß ganz still da, ballte ihre Fäuste und biß die Zähne aufeinander. Die innere Tür glitt auf. Sie schloß ihre Augen.
In dieser letzten Sekunde war ihr Gehirn ein Vulkan, der Bedauern und Hoffnung, Wünsche und Entschuldigungen ausspie. Sie wußte aber, daß sie selbst dann, wenn sie all das hätte aussprechen können, damit auch nicht das geringste ändern würde.
Jemand kam zu ihrem Stuhl und ging darum herum…
Sie wünschte nun, daß sie von Anfang an nie in die Sache hineingezogen worden wäre; sie dachte daran, daß es ihr damals als die einzige mögliche Lösung erschienen war. Nun wurde ihr klar, daß sie sich nur aufgelehnt hatte, weil sie bedroht gewesen war, und nicht wegen der Lage an der Oberfläche; sie wußte, daß niemand ihr vertraute: weder der Erste, der gehört haben mußte, was so oft in den Transportern gesagt worden war, noch die anderen, weil sie so dumm gewesen war, ihre Bedenken auszusprechen. Sie fragte sich, wer den Mörder wohl geschickt hatte.
… setzte sich auf die Lehne und sagte: „Gutes Programm?“
„David!“
„Hast du vielleicht einen von deinen Liebhabern erwartet?“ sagte ihr Mann und sah auf den Bildschirm.
„Nein, nein“, sagte sie hastig. Dann hob sie ihre Arme zu ihm hoch. „Ich bin so froh, daß du wieder da bist.“
„Hmm“, sagte er nach einer halben Minute. „Ich bin froh, daß ich wieder hier bin. Vielleicht sollte ich öfter weggehen.“
„Nein!“ schrie sie beinahe. „Sag das nicht. Verlaß mich nicht mehr. Nie mehr. Bitte.“
Ihre Augen zeigten den Schrecken, der in ihr brannte; sein Gesicht zeigte Besorgnis.
„Was ist los? Was ist passiert?“
„Nichts.“
„Da muß doch etwas sein. Sag es mir.“
Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte es ihm nicht sagen, nichts davon. Das geringste Wort konnte zu hundert weiteren führen. Sie konnte ihn da nicht hineinziehen, das war nicht fair. Selbst wenn sie sprechen wollte, konnte sie nichts sagen, weil sie befürchtete, abgehört zu werden – von einer der beiden Seiten.
Plötzlich drang es hervor: „Wir müssen hier weg. Es ist nicht sicher.“
„Was? Was ist nicht sicher?“
„Nichts“, sagte sie hastig, aber es war zu spät, das zurückzuholen, was ihr da herausgerutscht war. „Ich habe das nicht so gemeint, ich rede dummes Zeug daher. Es ist nur, daß…“
„Was? Sag es mir.“
„Ich… ich kann nicht. Aber geh nicht mehr weg. Versprich es mir.“
Er starrte sie argwöhnisch an, nickte aber.
„In ein paar Tagen ist alles in Ordnung. Das ist alles, worum ich dich bitte.“
Ihr Mann nickte wieder; er sagte nichts.
Ich konnte mir nicht erklären, warum Sonya sich so… anlehnungsbedürftig verhielt. Ich bekam eine Begrüßung wie nie zuvor; ich wußte aber gut genug Bescheid, um ihr nicht zu viele Fragen zu stellen. Ein paar Tage, hatte sie gesagt – die würde ich ihr gewähren und sie dann wieder fragen. Wenn ich in zwei Tagen noch da war. Ich hatte zwar gesagt, daß ich nicht weggehen würde, aber was hätte ich sonst sagen können? Ich würde vielleicht unfreiwillig weggehen müssen.
In der Haben-Spalte stand für mich: Ich hatte ausgeführt, was mir befohlen worden war. Ursprünglich hatte ich angenommen, daß ich für meinen Erfolg vielleicht belohnt werden würde: Beförderung in den Rang eines Wächters. Jetzt war ich da nicht mehr so sicher.
Dann war da noch die Soll-Spalte. Ein Punkt darin schien am schwersten von allen zu wiegen: daß ich wußte, wo der Erste wohnte. Das war eine Art
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