Zeitfinsternis
Saarländer wußte nicht, was er erwartet hatte, aber der Mann sah auch nicht anders aus als irgend jemand sonst. Er schien nur ein gewöhnlicher Soldat zu sein, obwohl sein einziges Uniformstück ein dunkelgrüner Übermantel war.
Sir Guy befeuchtete seine Lippen. „Warum habt Ihr das getan?“ fragte er aggressiv. Er starrte hinter den Mann, um zu sehen, ob es noch mehr Wachen gab.
Der Mann blieb stehen und runzelte die Stirn. „Hier kommt Ihr nicht durch“, sagte er.
„Warum nicht?“ sagte der Reiter in genau demselben Tonfall.
„Der Zutritt ist hier verboten. Ihr betretet unbefugt flämisches Hoheitsgebiet.“
„Ich bin nicht unbefugt“, sagte Sir Guy. „Ich habe einen Auftrag…“
Der Soldat biß sich auf die Lippe.
„Ich werde erwartet, und Ihr dürft mich nicht aufhalten.“
„Ich darf nicht?“ Der Bogenschütze neigte seinen Kopf zur Seite, als lauschte er nach etwas, aber der eingelegte Pfeil zielte noch immer auf die ungeschützte Brust des anderen.
„Nein“, betonte der Ritter noch einmal. „Es sei denn, Ihr wollt den Zorn eurer Zauberer auf Euch ziehen.“ Fast hätte er ,König’ gesagt, hielt sich aber gerade noch im letzten Augenblick zurück. Er hatte nie gehört, daß ein flämischer Monarch erwähnt worden wäre, aber er wußte von Dutzenden von Zauberern, die dort wohnten – und die gefürchteter waren als ein simpler König. „Ihr habt doch sicher den Befehl, mich einzulassen.“
Der Soldat schüttelte den Kopf. „Hab’ ich nicht.“
Sir Guy seufzte laut. „Laßt mich vorbei, und wir vergessen diesen Zwischenfall. Aber wenn nicht…“ Er zuckte die Achseln.
Der Grenzwächter schien aber noch immer nicht überzeugt.
„Hört zu: Habt Ihr Anweisung, Leute draußen zu halten – oder drinnen?“
Der Saarländer dachte, daß dieses Argument die Sache erledigen müßte, was auch der Fall zu sein schien. Der Mann senkte seine Waffe. Sir Guy schickte mit seinen Absätzen Gilbert vorwärts. Er erreichte den Mann, ritt an ihm vorbei. Er war hindurch.
„Ich glaube Euch nicht“, hörte er den Soldaten sagen.
Guy sah hastig über die Schulter und starrte die Pfeilspitze an, dann an dem Arm des Mannes hinauf bis zu seinen Fingern, die die straff gespannte Bogensehne festhielten. Der Augenblick dauerte ewig. Dann handelte er ohne zu überlegen und Heß sich aus dem Sattel fallen, statt abzusteigen oder sich zur Seite zu lehnen. In diesem Augenblick wurde der Pfeil abgeschossen und pfiff an der Stelle durch die Luft, wo eine halbe Sekunde vorher noch seine Wirbelsäule gewesen war.
Guy erhob sich ohne Hast, wischte sich den Staub von den Knien, zog sein Schwert und ging auf den erstaunten Soldaten zu, der zwei oder drei Schritte zurückstolperte, stieß ihm mit kühler Entschlossenheit die Klinge sauber und genau in den Magen und drehte sie herum.
Damit hatte er in seinem Leben bereits zwei Männer umgebracht; zwei in ebenso vielen Tagen, obwohl er sich vielleicht darauf fürs erste nicht viel einbilden konnte. Er war überrascht, wie leicht es ging.
Er wischte sein Schwert ab und dachte, daß die Klinge durch das Blut schon besser aussah. Er stand ein paar Sekunden gedankenverloren über der Leiche. Er zog ihr den Mantel aus, der kaum mit Blut bespritzt war; glücklicherweise hatte er offengestanden. Er packte den toten Körper an den Beinen und schleifte ihn von der Straße herunter in entgegengesetzter Richtung in den Wald, aus der der Mann gekommen war, als er noch lebte. Auch den Bogen und die beiden abgeschossenen Pfeile ließ er verschwinden.
Er zog den Mantel des Bogenschützen an, der ihm bis zu den Oberschenkeln reichte, und zeigte damit der Welt, daß er ganz offensichtlich ein flämischer Soldat war, der mit Fug und Recht durch dieses Land reiten durfte. Daraufhin bestieg er
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