Zeitfinsternis
sie ihre Arme zu ihm hoch. „Ich bin so froh, daß du wieder da bist.“
„Hmm“, sagte er nach einer halben Minute. „Ich bin froh, daß ich wieder hier bin. Vielleicht sollte ich öfter weggehen.“
„Nein!“ schrie sie beinahe. „Sag das nicht. Verlaß mich nicht mehr. Nie mehr. Bitte.“
Ihre Augen zeigten den Schrecken, der in ihr brannte; sein Gesicht zeigte Besorgnis.
„Was ist los? Was ist passiert?“
„Nichts.“
„Da muß doch etwas sein. Sag es mir.“
Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte es ihm nicht sagen, nichts davon. Das geringste Wort konnte zu hundert weiteren führen. Sie konnte ihn da nicht hineinziehen, das war nicht fair. Selbst wenn sie sprechen wollte, konnte sie nichts sagen, weil sie befürchtete, abgehört zu werden – von einer der beiden Seiten.
Plötzlich drang es hervor: „Wir müssen hier weg. Es ist nicht sicher.“
„Was? Was ist nicht sicher?“
„Nichts“, sagte sie hastig, aber es war zu spät, das zurückzuholen, was ihr da herausgerutscht war. „Ich habe das nicht so gemeint, ich rede dummes Zeug daher. Es ist nur, daß…“
„Was? Sag es mir.“
„Ich… ich kann nicht. Aber geh nicht mehr weg. Versprich es mir.“
Er starrte sie argwöhnisch an, nickte aber.
„In ein paar Tagen ist alles in Ordnung. Das ist alles, worum ich dich bitte.“
Ihr Mann nickte wieder; er sagte nichts.
Ich konnte mir nicht erklären, warum Sonya sich so… anlehnungsbedürftig verhielt. Ich bekam eine Begrüßung wie nie zuvor; ich wußte aber gut genug Bescheid, um ihr nicht zu viele Fragen zu stellen. Ein paar Tage, hatte sie gesagt – die würde ich ihr gewähren und sie dann wieder fragen. Wenn ich in zwei Tagen noch da war. Ich hatte zwar gesagt, daß ich nicht weggehen würde, aber was hätte ich sonst sagen können? Ich würde vielleicht unfreiwillig weggehen müssen.
In der Haben-Spalte stand für mich: Ich hatte ausgeführt, was mir befohlen worden war. Ursprünglich hatte ich angenommen, daß ich für meinen Erfolg vielleicht belohnt werden würde: Beförderung in den Rang eines Wächters. Jetzt war ich da nicht mehr so sicher.
Dann war da noch die Soll-Spalte. Ein Punkt darin schien am schwersten von allen zu wiegen: daß ich wußte, wo der Erste wohnte. Das war eine Art Information, die er bestimmt nicht gern verbreitet sehen würde, und vielleicht wollte er sichergehen, daß ich meinen Mund hielt. Für immer. Oder vielleicht hatte er dem Mädchen vollständigere Direktiven erteilt, die er im weiteren Verlauf ihres Wegs noch präzisierte. Das hoffte ich.
Einen Augenblick lang fragte ich mich, wie die beiden wohl miteinander auskommen würden – was sich zwischen ihnen abspielte und ob sie die letzte Nacht auf die gleiche Art verbracht hatten wie Sonya und ich.
Der zweite Punkt in der Soll-Spalte war von Angel. Er stammte von der Oberfläche, und er war hier unten.
Bis jetzt hatte ich ihn aus meinem Bewußtsein verdrängt, aber ich wußte, daß er kurz davorstand, diese Mauer zu durchbrechen, und er würde nicht verschwinden, bis ich mir über ihn klargeworden war. Ich ließ die Gedanken an ihn also durch.
Als wir ihn nach unten gebracht hatten, schien er nicht allzu schwer verletzt gewesen zu sein – Schnitte, Abschürfungen, blaue Flecken. Er war aber bewußtlos gewesen, was eventuell auf innere Verletzungen hinwies. Sie hatten ihn in das Krankenhaus gebracht – es gab nur eines –, und ich hätte mich nach ihm erkundigen können. Ich wollte aber nicht noch tiefer in die Sache verwickelt werden. Ich schuldete ihm nichts. Wir hätten ihn dort liegenlassen sollen, wo er war.
Ein anderer Teil meines Kopfes allerdings dachte da anders: daß er meinetwegen verletzt worden war, daß man ihn nicht oben lassen konnte, selbst wenn er völlig unverletzt gewesen wäre, weil er zuviel wußte. Und
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