Zeitgenossen - Kampf gegen die Sybarites (Bd. 2) (German Edition)
eisgraue Haar und rechnete im Geiste schnell nach, wie alt er jetzt sein musste.
Jean-Marc war 83 Jahre alt und die Falten in seinem Gesicht, die mich zunächst etwas überrascht hatten, waren somit nur natürlich.
Er war bereits kein Jüngling mehr gewesen, als ich auf Reisen gegangen war. Nur weil er immer um mich herum gewesen war, war mir die Veränderung kaum aufgefallen. Jetzt allerdings wurde mir schlagartig bewusst, dass die Zeit, die ich oft so leichtfertig verstreichen ließ, für einen Menschen hingegen alles bedeutete.
Jean-Marc führte mich in den kleinen Raum, in dem Claudines Leiche aufgebahrt lag. Ein friedliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht und sie wirkte, als sei sie erst vor wenigen Tagen verstorben. Ich überlegte, dass man ihren Leichnam offenbar recht gut präpariert haben musste, und sah Jean-Marc fragend an. »Ich habe darum gebeten, weil ich nicht wusste, wie schnell Ihr hier sein könnt«, erklärte Jean-Marc mir leise, als er meinen Blick bemerkte.
»Sie sieht friedlich aus«, registrierte ich.
»Sie ist auch friedlich gestorben«, bestätigte Jean-Marc traurig. »Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Sie lächelte mich an und entschuldigte sich, weil sie mich jetzt verlassen müsse. Dann schloss sie die Augen für immer.«
Erneut nahm ich Jean-Marc in den Arm. Äußerlich wirkte er zwar inzwischen wie mein Großvater, doch für mich war er nach wie vor der junge Bursche, der meines Schutzes bedurfte.
»Wie ist es euch in all den Jahren ergangen?«, fragte ich ihn. »Deinen Briefen zufolge habt ihr euch hier wohl gefühlt, aber nun habe ich doch ein schlechtes Gewissen, weil ich so lange auf Reisen war.«
»Oh nein, Mademoiselle, so dürft Ihr nicht denken!«, protestierte Jean-Marc mit einem leisen Lächeln. »Wir hätten Euch ja begleiten können, aber Claudine war so glücklich hier in Wien. Wir beide waren glücklich. Claudine liebte es ins Theater und in die Oper zu gehen, wir beide liebten die Kaffeehäuser, die Spaziergänge in den Parks und Gärten und die Kutschfahrten aufs Land. Dank Eurer großzügigen Unterstützung konnten wir hier sorgenfrei leben. Auch mochten wir beide die halbjährlichen Besuche in Fontainebleau nicht missen.«
»Mittlerweile dürfte es die dritte und vierte Generation Kinder sein, die auf Gut Larchant ein Zuhause finden«, rechnete ich nach. »Wurde euch die Fahrt dorthin in den letzten Jahren nicht zu beschwerlich?«
»Nein, Mademoiselle, es war stets eine Freude für uns«, erklärte Jean-Marc. »Viele der Kinder aus dem Terrain de Jeux sind in Fontainebleau geblieben und haben sich dort ein eigenes Leben aufgebaut. Etliche von ihnen sind schon lange selbst Eltern, einige sogar Großeltern.« Er sah mich etwas wehmütig an und ich strich ihm tröstend über den Rücken. Jean-Marc war es ebenso wenig wie mir vergönnt gewesen, Nachkommen zu zeugen, und ich verstand die leise Trauer, die er darüber empfand. Dann fiel mir noch etwas ein.
»Du hast mich in deinem Brief gebeten, dir bei der Erfüllung von Claudines letztem Wunsch zu helfen. Worin besteht er denn?«, fragte ich ihn.
»Sie möchte gerne in Paris neben ihrer Mutter begraben werden«, antwortete er.
Ich nickte. Etwas Ähnliches hatte ich bereits vermutet. »Aber da ist doch noch etwas?«, fragte ich forschend, als ich sah, wie Jean-Marc zögerte.
»Mademoiselle«, sagte er daraufhin verlegen und wirkte dadurch fast wieder wie der junge Mann von einst, »ich würde dann gerne in Paris bleiben. Ich möchte in Claudines Nähe sein und ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste … Und irgendwie ist es doch auch meine Heimat oder zumindest die Heimat meiner Väter.«
Ich schluckte die Tränen der Rührung, die in mir hochkamen, herunter. »Selbstverständlich«, versprach ich ihm. »Wir bleiben in Paris.«
»Aber Mademoiselle«, widersprach Jean-Marc, »so meinte ich das nicht. Ihr müsst nicht extra meinetwegen ebenfalls dort bleiben. Das würde ich nie von Euch verlangen.«
»Das weiß ich, Jean-Marc«, erklärte ich entschlossen. »Aber ich will es so! Wir ziehen wieder zurück nach Paris.« Es war das mindeste, was ich für ihn tun konnte. Er hatte mir all die Jahre hindurch treu gedient und auch die meiste Zeit davon an meiner Seite verharrt.
Am nächsten Morgen engagierte ich jemanden, der sich darum kümmerte, in meinem Namen in Paris ein Haus zu mieten, und begann mit den Vorbereitungen für den Umzug und Claudines Überführung in ihre alte Heimat. Leider hatte ich
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