ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
erzählten. Auch hierbei machte sich Birte Notizen, denn das Eine oder Andere konnte sie auch bei ihrer Arbeit im Kindergarten gebrauchen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele Weisheiten durch die Märchen vermittelt wurden – und das auf ganz spielerische Art und Weise.
Die Kinder waren fasziniert von den Geschichten. Anscheinend vermissten sie die früheren Fernsehabende nicht. Stattdessen kam Kim, nachdem er das Märchen von Rotkäppchen gehört hatte, auf die Idee, der alten Omi Rössler, die doch kaum noch sehen konnte und von Brigitte Nicolai mitversorgt wurde, das Essen zu bringen.
»Das ist eine tolle Idee, Kim. Das wäre etwas wirklich Nützliches. Ich werde im Kindergarten anregen, ob die Kinder nicht auch jemanden kennen, dem sie helfen könnten. Ich bin stolz auf dich und deine Idee!« Birte lächelte ihren Sohn an.
Nachdem ihre Anregung dort spontan und begeistert aufgenommen und nach und nach umgesetzt wurde, stellte sie fest, dass die Kinder nun insgesamt viel weniger unruhig und zappelig waren. Sie wirkten ausgeglichener und, so erschien es ihr jedenfalls, die motorischen Fähigkeiten ihrer Schützlinge nahmen rapide zu – und nicht nur die: Seit den Kindern Verantwortung übertragen wurde, wirkten sie anrührend besorgt. Es war fantastisch zu sehen, wie ihre Hilfsbereitschaft und ihr Mitgefühl für andere sie veränderte, ihnen eine ganz neue Würde und Ernsthaftigkeit verlieh.
Birte ertappte sich in diesen Wochen öfter bei dem Gedanken, dass sie sich jetzt, in dieser neuen Situation nach dem Ereignis, dem Wissen und der Tatkraft ihrer Eltern hoffnungslos unterlegen fühlte. Sie staunte über diese Erkenntnis. Hatte sie nicht früher die Ansichten und Lebensweisheiten der Älteren als überholt, als von gestern , empfunden? War sich ihre Generation nicht immer viel moderner und überlegener vorgekommen, nur weil sie Computer und Internet sicherer beherrschte? Weil sie über ihre sozialen Netzwerke, wie Twitter und Facebook, zwar mit jedermann verbandelt, aber mit niemandem wirklich verbunden war? Lebten ihnen nun die Eltern plötzlich Werte vor, die sie vor nicht allzu langer Zeit belächelt hatte?
Aber an manch anderen Tagen drängten andere Gedanken hoch, dunkle Gedanken. Sie dachte an die Menschenleben, die das Ereignis gekostet haben musste, haderte mit sich, fragte sich, wie sie mit dieser Schuld umgehen konnte, fand Trost in Gesprächen mit ihrer Freundin Kerstin. Die beiden Frauen verstanden es, sich gegenseitig Mut zuzusprechen. Denn eines sei mal sicher, ließ Kerstin ein ums andere Mal verlauten: »Wir hatten weder Vorsatz noch echte Alternativen. Doch von einer gewissen Fahrlässigkeit können wir uns sicher nicht ganz freisprechen, da wir mit Kräften umgegangen sind, die wir nicht richtig steuern konnten. Jedoch war unser Handeln bestimmt von Sorge und Verantwortung, nicht von Gedanken an Macht oder gar Unterdrückung und Vernichtung. Niemand kann uns von unserer Verantwortung für das Geschehene freisprechen, aber dies sollte uns um so mehr anspornen, mit unserer neuen Verantwortung noch sorgfältiger, noch achtsamer umzugehen und diese auch auf unsere Kinder zu übertragen«
In der zweiten Aprilhälfte setzte dann endlich das lang ersehnte Tauwetter ein. Wege und Straßen verwandelten sich in schmutzigbraune Matschwüsten, und auf den Feldern lugten nun mehr und mehr braune und grüne Inseln hervor. Es war, als erwache das Leben nach diesem harten und für die Menschen ungewöhnlichen Winter neu. Es ging jetzt das Gerücht um, dass demnächst neues Geld verteilt werden sollte. Würde damit das Ende dieser ungewöhnlichen Zeit und der Neubeginn vertrauter Verhältnisse eingeläutet werden? War es wirklich das, was den Menschen fehlte?
Birte hegte ihre Zweifel daran. Sie hatte von Markus schon sehr viel früher von der geplanten Einführung des Reals erfahren, aber den Mund darüber gehalten. In ihr keimte nämlich das untrügliche Gefühl, dass mit der neuen Währung, der eigenartige Zauber der, gerade in diesem harten Winter besonders zutage getretenen neuen Hilfsbereitschaft und Solidarität verloren gehen würde.
Sie staunte über diese Besorgnis. War es möglich, dass Geld das alles entscheidende, trennende Element zwischen den Menschen war? Sie hatte einmal einen Witz gehört, der ihr seitdem nicht mehr aus dem Sinn ging. Er lautete: Streiten sich zwei Flöhe im Fell eines Hundes darüber, wem von ihnen der Hund wohl gehöre, in dessen Fell sie saßen.
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