ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
wurde Teil davon, ihr Körper gab sich vollständig der Freude hin, ihr Klatschen und Schnipsen, die gemeinsame Choreographie, die liebevollen Gesichter der Zuhörer, Henning mit seinen dirigistischen Hilfen – es fühlte sich an, als wären sie aus einem Guss, ein Organismus der da bebte und feierte, sang, und erschauerte.
Ohne dass es geplant war, machten sie gleich mit dem zweiten Stück weiter, es hieß nicht zufällig: Sing till the Power of the Lord come down ... Annette sang das Intro allein, sie machte das großartig. Dann fiel der Chor mit ein. Im Meer der klatschenden Zuhörer fiel der Mann, der auf der Empore ganz rechts außen saß, auf. Er saß steif und unbeweglich mit einem Operngucker in der Hand, während um ihn herum die Menschen feierten und den Chor anfeuerten. Die Superstimmung prallte an Gertulek ab wie Wasser von einer Teflonpfanne. Dass er es sein musste, war ihr sofort klar, obwohl er zu weit weg saß, um ihn wirklich erkennen zu können.
Seltsamerweise hatte diese Beobachtung nicht die Macht, Birte aus der Wirkung des Feldes zu lösen. Sie verblieb in der Magie der liebevollen Umarmung mit der Gemeinde, die auch Teil von ihr war. In La'k'esh, so, wie es sein soll…
Plötzlich, während sie fast automatisch das Stück sang, schien ihr Über-Ich ein Eigendenken zu beginnen. Es war, als beobachte sie sich selbst beim Singen – ein Ich hinter ihrem Ego sozusagen und dieses Über-Ich begann sich an Simon anzudocken. Ihr Über-Ich wollte die Kraft des Feldes in der Kirche auf Simon übertragen. Und da kam der Kontakt zustande: Er war da, sie war er, ihr Geist- und Seelen-Ich verbanden sich und während ihr Über-Ich imaginierte, dass sie ihm die Kraft des Feldes wie durch einen Tankschlauch in sein Vitalfeld führte, da fühlte sie, dass auch die anderen NHE-Mitglieder andockten und sich geistig umarmten, vereinten, ein riesiges Feld wurden, das nun seinerseits auf das Kraftfeld in der Kirche Einfluss nahm. Sie imaginierten gemeinsam das Bild, dass Simon frei kam und unter ihnen weilte, während sein Gegner da oben im Emporenrang an Kraft verlor, immer weiter an Kraft und Macht verlor – es war, als saugten sie Gertulek leer.
Die Energie, die Gertulek verlor, verbunden mit dem pulsierenden Geistesfeld der Gemeindemitglieder, stärkte Simons Vitalfeld. Es war unglaublich. Obwohl Birtes Normal-Ich diesem Treiben erschreckt beiwohnte, konnte sie einfach nicht davon lassen. Es schien, als bildete NHE ein überkollektives Bewusstsein, von dem sie zwar Teil, jedoch nicht bestimmendes Ego war. Dies alles geschah, während der Chor nun beim Refrain ankam und immer kraftvoller posaunte: Power ... Power ... Power ... Power… Sing till the Power of the Lord comes down!
Mit dieser Phrase endete das Lied, der Chor verharrte sekundenlang in der einstudierten Pose, dann tauchte Birte aus dieser mysteriösen Erfahrung auf, lockerte ihre Körperspannung und traute sich kaum, zur Empore zu sehen. Dort schien etwas vorzugehen. Menschen beugten sich anscheinend über eine Person. Sollten sie Gertulek etwa…?
Kerstin unterbrach den Gottesdienst nicht, obwohl sie das Geschehen beobachtete. Menschen trugen einen Körper hinaus, kümmerten sich um ihn. Unbeirrt ließ Kerstin das Feld weiterhin wirken und begann ihre Predigt. Birte setzte sich mit den anderen Chormitgliedern in die freigehaltene erste Reihe und lauschte. Henning ging nach oben, um sich an die große Orgel zu setzen, denn nach der Predigt sollte er ein Orgelzwischenspiel anstimmen.
Noch immer konnte sich Birte nicht auf ihr eigenes Denken konzentrieren, das Feld wirkte fort, sie fühlte sich dabei wie ein Glied in einer unendlichen Kette von Gemeindemitgliedern. In ihr pulsierten liebevolle Gefühle, so mächtig, dass sie erst jetzt merkte, dass ihr die Tränen die Wangen hinab liefen. Den anderen erging es ebenso. Kerstin soll das Feld abstellen, war sie denn verrückt geworden? So lange hatte sie es noch nie sich entfalten lassen. Die Worte Kerstins drangen nicht in ihr Bewusstsein, sie beobachtete die Freundin und dabei war ihr, als würden deren Lippen nicht Worte sondern pure Energien aussenden, machtvolle Liebesenergien, die sie umhüllten, so, wie sonst das Gazetuch den Schädel einhüllte.
Nach dem Orgelspiel und zwei weiteren Chorstücken schaltete Kerstin endlich das Feld aus. Es dauerte bis zum Ende des Gottesdienstes, bis die Menschen wieder auf Normalniveau herunter geschwungen waren. Birte war total erschöpft, wie
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