ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
leise den Ton vor und dann begannen sie, mit einem schwungvollen Freedom is coming auf den Lippen, langsam ihre Plätze auf dem Podest einzunehmen, so wie sie es geübt hatten. Ashita stellte sich vorsichtig auf das Tuch.
Sie sangen das Lied als Kanon zu Ende. Die stehende Menge Mensch klatschte fröhlich dazu. Birte, die jetzt seitlich hinter Ashita und neben Kerstin stand, fühlte auf ihrem Platz sofort eine sonderbare Erregung - die feinen Härchen auf ihrer Haut standen augenblicklich in die Höhe, es kribbelte, als würden ihr tausend Ameisen über die Haut krabbeln. Was war das?
Ashita wirkte davon unberührt, sie stand ruhig und gelassen auf dem Tuch, man merkte ihr keinerlei Ungewöhnliches an. Kerstin rieb sich die Unterarme, zog die Schultern hoch, ihre Wangen glühten. Ulla und Michael, die vorne rechts und links neben Ashita standen, wirkten ebenfalls unruhig. In Birte wuchs das Unbehagen; eine derartige Wirkung von Corona de Luz hatte sie noch nicht erlebt. Es fühlte sich nicht gut an, auch nicht annähernd vergleichbar mit damals, als sie mit Brayasil die Initialisierung hier durchgeführt hatten.
Ein Blick zu Markus und Lars zeigten ihr, dass diese nichts zu bemerken schienen. Plötzlich dämmerte ihr, dass der Schleier, der jetzt nicht eng am Schädel anlag, sondern einen Abstand zu ihm hatte, anscheinend nicht richtig abschirmte, sondern Streustrahlung seitlich am Schleier vorbeiführte und so, die Ashita Lee am nächsten Stehenden, ungünstig beeinflusste.
Endlich war der Kanon zu Ende. Birte fand gerade noch Zeit, Kerstin zuzuraunen, um Himmelswillen den Schleier weg zu schieben. Kerstin schien die Lage ebenfalls erfasst zu haben und nickte. Kaum ging Ashita nach vorn, trat Kerstin in die entstehende Lücke, was ihr die erstaunten Blicke der Nachbarn eintrug, die es gewohnt waren, in der ersten Reihe zusammen zu rücken. Schnell schob Kerstin das Tuch mit den Füßen an die Seite – augenblicklich verschwand das unangenehme Kribbeln.
Birte atmete auf. Henning gab den Einsatz für Father , den nächsten Gospel. Sie brachte ihre ganze Erleichterung darüber, dass der ungute Effekt nun weg war, mit wahrer Inbrunst in das nächste Lied ein. Nun stellte sich auch das vertraute, langsam stärker werdende Feld von Corona de Luz ein. In ihrem Körper war ein himmlisches Jauchzen. Sie merkte überhaupt nicht, wie schnell die Zeit verging. Wie in Trance sangen sie ein Lied nach dem anderen, immer inbrünstiger, immer kraftvoller. Nun fühlte sie, wie Neue Hoffnung Erde miteinander verschmolz und die nun gemeinsame, konzentrierte Aufmerksamkeit auf Harmonie, Frieden und Solidarität fokussierte.
Das Feld war stärker als gewöhnlich, wuchs zu immer größerer Kraft an. Wie verschleiert nahm sie wahr, dass die Menschen, die doch eben noch stehend klatschten, nicht mehr standen, sondern am Boden knieten. Die Arme in die Höhe gereckt, mit offenen Mündern und großen Augen starrten sie auf Kerstin. Ashitas wunderschöne Solostimme schwebte über dem Ganzen. Birtes Ich wollte über diesen ganz und gar ungewöhnlichen Vorgang staunen, nahm nun plötzlich ebenfalls die rosafarbene Aura wahr, die Kerstin einhüllte, größer wurde und wie ein Elmsfeuer knisternd hinauf zum Kreuzgewölbe über ihnen stieg. Alle Härchen auf der Haut standen aufrecht.
Das Staunen ihres Ichs konnte Birte nicht aus ihrer Trance herauslösen. Ihr Über-Ich übernahm die Regie, erfüllt mit reinster Freude und Liebe sehnte es sich nach dieser Flamme, drängte zu dem Feuer – NHE verschmolz mit der rosa Aura Kerstins, wurde eins mit ihr. Nun hatte sie das Gefühl, selber inmitten dieser rosa Flamme zu stehen, die nicht Hitze sondern Liebe war.
Oh mein Gott …
An einem sonnigen Tag im Oktober 2019; Berlin-Wedding; Mehringer-Hochhaus
Nele sah aus dem Fenster ihres Sechzig-Quadratmeterbüros im vierzehnten Stock. Eigentlich war es, genau genommen, der dreizehnte, doch wegen eines dummen Aberglaubens vermied man diese Bezeichnung.
Wie immer fiel ihr Blick als erstes auf die in einiger Entfernung von ihrem Bürofenster liegende prächtige Bauanlage des Weddinger Krematoriums. Die rote geometrisch perfekte Dachziegellandschaft, eingerahmt von gepflegten Rasenflächen war ein optischer Leckerbissen.
Die städtische Kulisse um diesen Bau herum wirkte aufgeräumt, keine rostenden Autos mehr an den Straßenrändern, nur das Schienenbett der S-Bahn teilte das Bild. Die Bahn fuhr regelmäßig und war damit das
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