ZEITLOS (German Edition)
weiterredet?« Birte sah ihn nur noch fragend an.
Simon sah ihn nun direkt an. »Markus, ich kann dich verstehen, dass du als Wissenschaftler vorerst darüber schweigen willst, aber ich glaube, wir können in dieser Runde ruhig darüber sprechen – wenn es unter uns bleibt!« Er sah alle der Reihe nach an und forderte jeden Einzelnen durch Kopfnicken dazu auf, zuzustimmen. Dann begann er, von ihren Experimenten an der Uni zu erzählen und es versprach, eine sehr lange Nacht zu werden…
17.08.2010; Dienstag; früher Morgen/Ortszeit Mexiko; Ostflanke Iztaccihuatl; 3050 m ü. NN
Sein Blick schien auf der östlichen Horizontlinie zu ruhen, die sich mehr und mehr gegen den heller werdenden Morgenhimmel abzuzeichnen begann. Die Luft war eisig und schnitt beim Einatmen in die Lungen. Dies schien dem einsamen Trommler nichts auszumachen. Monoton, aber schnell, schlug er die heilige Trommel, leicht vornüber gebeugt am Berghang, seinem Ort der Kraft, die Füße hüftbreit auseinander und beide Beine fest mit der Erde verwurzelt. Nur die wippenden Bewegungen seiner Schultern schienen dem Klang der Trommel Ehre erweisen zu wollen. Die Glut des heruntergebrannten Feuers verströmte noch immer würzige Kräuteraromen, die zusammen mit dem kaum noch wahrzunehmenden Rauch in den immer heller werdenden Himmel stiegen.
Der dünne Strich am Horizont wechselte seine Farbe langsam von indigoblau zu orange, das Orange wurde stärker, changierte an den Rändern nun fast ins Weiß hinüber und als gerade der erste Lichtstrahl des aufgehenden Sonnenballs über den Horizont sprang, verstummte die Trommel.
Die einsetzende Stille veränderte alles: Es war, als würde dem einsamen Trommler ein anderes Leben eingehaucht, seine vorn übergebeugte Haltung, in der er ungezählte Stunden getrommelt hatte, straffte sich, neues Leben kehrte in seine entrückten Gesichtszüge. Das Schweigen der Trommel setzte augenblicklich Raum und Zeit an ihren angestammten Platz zurück.
Ein unbeteiligter Beobachter dieser Szene hätte es vielleicht so formuliert: Es war, als hätte der Kosmos während der Trommelzeremonie den Atem angehalten, als wären Zeit und Raum an einem Punkt zusammengefallen, hätten ihren Tanz fortwährender Dualität unterbrochen, um dem Klang der heiligen Trommel zu gehorchen.
Achtsam, nach festgelegtem Ritual, ließ er die Trommel langsam sinken, während sich sein Körper einmal um die eigene Achse, vom Osten zum Norden, vom Norden zum Westen, vom Westen zum Süden und dann wieder zum Osten drehte, beschrieb die Trommel in seiner rechten Hand einen großen Kreis, brachte damit den Geistern der vier Himmelsrichtungen Würdigung und Dank dar.
Wie jedes Mal führte er die Trommel zum Mund und küsste das hirschlederne Trommelfell in liebevoller Ehrerbietung. Danach verstaute er sie in dem kunstvoll geflochtenen Lederfutteral, das er am Gürtel trug. Nun nahm er die Kalebasse, die an der anderen Seite seines Gürtels hing, öffnete sie, hielt sie hoch, drehte sich im Kreis, diesmal in entgegen gesetzter Richtung, und schüttete sodann die in ihr befindliche Flüssigkeit mit einer leise gemurmelten Beschwörungsformel in die Glut. Ein Stoß weißen, schweren Rauches stieg in den Morgenhimmel, wie eine sich empor schwingende Friedenstaube. Er sah ihr nach, bis sie nicht mehr zu erkennen war.
Nachdem dies geschehen war, machte er sich an den Abstieg. Sein Herz frohlockte, denn bei dieser Reise in die Oberwelt hatte er mit Hilfe seines Naguals, seines treuen tierischen Geistführers, endlich Gewissheit erhalten. Mutter Erde schickte sich an in ein neues Zeitalter zu gehen, um sich erneut mit dem Menschengeist zu vermählen, wie es in der Vergangenheit schon häufig geschehen war.
Was die Ahnen seit Generationen prophezeiten, drängte nun in die Realität. Das Geheimnis begann sich zu entfalten, Raum und Zeit zu füllen und sich damit allen Menschen zu offenbaren – nicht mehr nur den eingeweihten Initiierten, und das war gut so.
***
Don Antonio Rodriguéz de Sonora war ein weit gereister Mann, der über viele internationale Kontakte verfügte. Seine Villa Sabiduria lag etwas erhöht auf einer flachen Hügelkuppe im Südosten von Tlahuác, einem der sechzehn Stadtbezirke von Mexico-City. Das rund fünftausend Quadratmeter umfassende, gepflegte Anwesen bot mit seinem viereckigen Südost-Turm einen imposanten und trutzigen Anblick.
Genau genommen bestand die Villa Sabiduria aus mehreren quadratischen Wohn-
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