Zeitoun (German Edition)
New Orleans war wahrlich keine durchweg wohlhabende Stadt –, sondern das Gefühl, dass alles nach Lust und Laune ersetzbar war. Er versuchte, seinen Kindern einen Sinn für den Wert von Arbeit zu vermitteln, für den Wert von allen Dingen, die in ihr Haus kamen, doch er wusste, dass vieles im Gesamtkontext verloren gehen würde, in der herrschenden Verschwendungs- und Überflusskultur. Er war in dem Glauben erzogen worden, dass Gott Verschwendung über alles hasste. Sie zählte, so war ihm beigebracht worden, zu den drei Dingen, die Gott am meisten hasste: Mord, Scheidung und Verschwendung. Sie zerstörte eine Gesellschaft.
Nach dem Essen fragten die Mädchen, ob sie wieder Stolz und Vorurteil gucken durften. Es war Freitagabend, daher hatte Zeitoun keine schulischen Gründe, um den Film zu verbieten. Dennoch, er musste sich ja nicht wieder dazusetzen und mitgucken. Ihm hatte der Film beim ersten Mal ganz gut gefallen, aber ihm war schleierhaft, wie man ihn sich Dutzende Male hintereinander anschauen konnte. In der vergangenen Woche waren er und Zachary auf andere Räume ausgewichen, um etwas anderes zu machen. Kathy jedoch war jedes Mal bei den Mädchen geblieben, und auch diesmal machten sie es sich alle auf der Couch bequem und bekamen wie immer an denselben Stellen feuchte Augen. Zeitoun schüttelte den Kopf und ging in die Küche, um eine Schranktür zu reparieren, die sich gelockert hatte.
Den ganzen Abend über hielten sie den Film immer wieder an, um sich die Nachrichtenmeldungen über die Stärke und Richtung des Sturms anzusehen. Der Hurrikan bewegte sich noch immer langsam auf die Küste zu, mit Winden, die Geschwindigkeiten von über hundert Meilen die Stunde erreichten. Je länger er über einer Region blieb, desto größer war die Zerstörung. Alle Nachrichten waren furchtbar, und als Kathy das Foto von der fünfköpfigen Familie sah, wollte sie schon ausschalten. Sie war sicher, dass alle fünf tot waren, und dachte, dass der Gedanke an diese Familie sie noch wochenlang quälen würde, an all die Angehörigen, die zu der Feier gekommen waren und jetzt den Verlust von so vielen auf einen Schlag betrauern mussten – doch dann begriff Kathy, dass sie nicht tot waren. Sie stellte den Fernseher lauter. Die Familie war gerettet worden. Sie hatten die Jacht an einer Mangroveninsel unweit von Ten Thousand Islands festgemacht, in der Kabine ausgeharrt und gebetet und waren abwechselnd an Deck geklettert, um den Himmel nach Hilfe abzusuchen. Nur Stunden zuvor hatte die Küstenwache das Boot entdeckt und sie alle geborgen. Die fünf waren in Sicherheit.
Später, nachdem sie Zachary einen Gutenachtkuss gegeben hatte, legte Kathy sich in Nademahs Bett, und die Mädchen kuschelten sich an sie, ein Wirrwarr aus Gliedmaßen und Kissen.
»Wer will anfangen?«, fragte Kathy.
Safiya begann eine Geschichte über Pokémon. Die Geschichten, die die Mädchen gemeinsam erzählten, handelten oft von Pokémon. Nachdem Aisha den Protagonisten eingeführt hatte, lieferte Safiya den Rahmen und den zentralen Konflikt, und Nademah machte von da an weiter. Sie spannen die Handlung abwechselnd fort, bis Aisha schlief und Nademah und Safiya wegdämmerten. Als Kathy aufblickte, sah sie, dass Zeitoun im Türrahmen lehnte und sie alle beobachtete. Er machte das oft, sie einfach beobachten, den Anblick in sich aufnehmen. Die Szene war fast zu viel, zu schön. Sie genügte, um einem Mann das Herz zu weiten.
SAMSTAG , 27. AUGUST
Zeitoun und Kathy erwachten spät, nach acht. Als sie den Fernseher einschalteten, sahen sie Michael Brown, den Direktor der Katastrophenschutzbehörde Federal Emergency Management Agency, kurz FEMA, der alle Bewohner von New Orleans aufforderte, so schnell wie möglich ins Landesinnere zu fliehen. Das National Hurricane Center hatte für Louisiana die Warnung herausgegeben, dass der Hurrikan die Kategorie 5 erreicht haben könnte, wenn er aufs Festland traf. Hurrikane der Kategorie 5 hatten die USA erst dreimal heimgesucht und noch nie New Orleans.
»Schatz«, sagte Kathy. »Ich finde, wir sollten von hier verschwinden.«
»Fahrt ihr«, sagte Zeitoun. »Ich bleibe.«
»Wie kannst du bleiben?«, fragte sie.
Aber sie kannte die Antwort. Sie hatten keine kleine überschaubare Firma, sie konnten nicht einfach eine Bürotür abschließen und gehen. Die Stadt zu verlassen bedeutete, ihren gesamten Besitz zurückzulassen, ihre Mietshäuser, und das konnten sie nur im äußersten Notfall tun. Sie hatten
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