Zeitoun (German Edition)
bisschen an Kraft. Und weil der Hurrikan sich insgesamt so langsam bewegte, mit nur rund acht Meilen die Stunde, richteten die anhaltenden Winde katastrophale Schäden an und würden das auch weiterhin tun.
Trotzdem war die Berichterstattung für Kathy bloß ein Hintergrundgeräusch, bis sie die Worte »fünfköpfige Familie« aufschnappte. Es ging um die Familie, die auf See verschollen war. Oh nein, dachte sie. Bitte. Sie drehte den Ton lauter. Die fünf wurden noch immer vermisst. Der Name des Vaters war Ed Larsen. Er war Bauleiter. Das darf nicht wahr sein, dachte sie. Er hatte sich das Wochenende freigenommen, um mit seiner Familie auf seiner Jacht, der Sea Note, segeln zu gehen. Sie waren in Marathon gewesen und auf dem Rückweg nach Cape Coral, als der Funkkontakt abbrach. Seine Frau und seine drei Kinder waren bei ihm. Sie wollten zu einer Familienfeier zurück an Land. Als die Verwandtschaft zusammenkam, stellte man fest, dass die Larsens fehlten, und die Feier verwandelte sich in banges Warten und Beten.
Kathy konnte es nicht ertragen.
Sie rief ihren Mann an. »Wir müssen weg.«
»Warte, warte«, sagte er. »Lass uns abwarten.«
»Bitte«, sagte sie.
»Ehrlich?«, sagte er. »Ihr könnt ruhig fahren.«
Kathy war mit den Kindern schon einige Male nach Norden gefahren, wenn Stürme zu nahe kamen. Aber sie hoffte, dass ihr die Fahrt diesmal erspart bliebe. Sie hatte übers Wochenende viel zu tun, und auch die Kinder hatten Pläne, und sie kam von solchen Fahrten stets erschöpfter zurück, als sie losgefahren war.
Fast ausnahmslos, ob sie vor einem Sturm flohen oder übers Wochenende einen Ausflug machten, mussten Kathy und die Kinder ohne Zeitoun fahren. Ihrem Mann fiel es schwer, den Betrieb allein zu lassen, es fiel ihm schwer, sich für ein paar Tage zu entspannen, und nach Jahren ohne Urlaub hatte Kathy gedroht, die Kinder an irgendeinem Freitag nach der Schule einfach ins Auto zu verfrachten und nach Florida zu fahren. Zuerst hatte Zeitoun ihr nicht geglaubt. Würde sie wirklich die Sachen packen und fahren, mit ihm oder ohne ihn?
Und ob. Eines Freitagnachmittags beschloss Zeitoun, der auf einer Baustelle in der Nähe nach dem Rechten sah, auf einen Sprung zu Hause vorbeizuschauen. Er wollte die Kinder sehen, sich ein frisches Hemd anziehen, ein paar Papiere abholen. Doch als er in die Einfahrt fuhr, sah er, wie Kathy den Minivan belud, die beiden Jüngsten bereits in ihren Kindersitzen.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Ich hab doch gesagt, ich fahre mit dir oder ohne dich. Und jetzt fahren wir.«
Sie wollten nach Destin in Florida, ein Badeort am Golf, circa vier Stunden entfernt, mit langen weißen Stränden und klarem Wasser.
»Komm doch mit, Daddy!«, flehte Nademah. Sie war gerade mit ihrer Schnorchelausrüstung aus dem Haus gekommen.
Zeitoun konnte vor Verblüffung nicht reagieren. Ihm gingen zig Sachen durch den Kopf, und in einem ihrer Mietshäuser war ein Rohr geplatzt. Wie konnte er da weg?
Nademah setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an.
»Bye-bye«, sagte Kathy, als sie zurücksetzte. »Bis Sonntag.«
Die Mädchen winkten zum Abschied, und weg waren sie.
Er fuhr an jenem Freitag nicht mit, aber danach hegte er keinen Zweifel mehr an Kathys Entschlossenheit. Er wusste, dass sie es ernst meinte, dass er in Zukunft in Sachen Urlaubsplänen um Rat gefragt werden würde, aber solche Trips nach Florida oder noch weiter mit ihm oder ohne ihn stattfinden würden. Und so war es dann auch in den kommenden Jahren, und bei einigen Trips war er sogar mit von der Partie.
Aber jedes Mal traf er seine Entscheidung in allerletzter Minute. Einmal war Kathy spät dran mit der Abfahrt, und er selbst war so spät dran mit seiner Entscheidung, dass er nicht mal mehr packen konnte. Sie setzte schon mit dem Wagen aus der Einfahrt, als er nach Hause kam.
»Jetzt oder nie«, sagte sie, ohne richtig anzuhalten.
Und so sprang er ins Auto. Die Mädchen kicherten beim Anblick ihres Vaters auf dem Rücksitz, noch in Arbeitsklamotten, dreckig und verschwitzt – vom Entscheidungsstress ebenso sehr wie von dem Arbeitstag. Zeitoun musste sich Strandsachen kaufen, als sie in Florida ankamen.
Kathy war stolz, dass sie ihn einmal im Jahr nach Destin gelotst hatte. Zeitoun machte es nicht viel aus, dorthin zu fahren, weil es nicht weit war und er jederzeit umkehren konnte – und mehr als einmal hatte er wegen irgendeines Problems auf einer Baustelle eine Reise abgebrochen.
Doch 2002
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