Zeitoun (German Edition)
überreden, doch noch mitzukommen. Wann war von offizieller Seite schon mal die Evakuierung der ganzen Stadt empfohlen worden?, fragte sie. War das allein nicht Grund genug?
Zeitoun räumte ein, dass es ungewöhnlich war, aber er war noch nie zuvor vor einem Hurrikan geflohen und sah dafür auch jetzt keine Veranlassung. Ihr Haus stand knapp einen Meter über Bodenhöhe und hatte obendrein zwei Stockwerke, weshalb selbst im schlimmsten Fall keine Gefahr bestand, dass er sich auf den Dachboden oder aufs Dach flüchten müsste. Zeitoun könnte jederzeit in den ersten Stock zurückweichen. Und sie wohnten auch nicht in der Nähe irgendwelcher Deiche, würden also nicht von eventuellen Sturzfluten betroffen sein, wie einige der anderen Stadtviertel. Die größte Gefahr bestand für East New Orleans oder den Lower Ninth Ward, mit seinen eingeschossigen Häusern dicht an den Deichen.
Und er konnte auf keinen Fall weg, ehe er sich nicht um alle Baustellen gekümmert hatte. Das würde niemand sonst erledigen, und er würde auch niemanden darum bitten. Er hatte seine Arbeiter und Handwerker bereits nach Hause zu ihren Familien geschickt, damit sie wegkonnten, ehe die Straßen verstopften. Er hatte vor, zu allen neun Baustellen zu fahren und seine Ausrüstung einzusammeln oder zu verzurren. Er hatte gesehen, was passierte, wenn das nicht gemacht wurde: Fenster und Wände von Leitern zerschlagen, Möbel von Werkzeug beschädigt, Rasen und Einfahrten voller Farbe.
»Ich mach mich lieber gleich auf den Weg«, sagte er.
Er fuhr zu den Baustellen, band Leitern fest, packte Werkzeug ein, Pinsel, lose Fliesen, Rigipsplatten. Als er mit der Hälfte der Baustellen fertig war, fuhr er nach Hause, um sich von Kathy und den Kindern zu verabschieden.
Kathy lud gerade ein paar kleine Taschen hinten in den Odyssey. Sie hatte Kleidung, Toilettenartikel und Essen für zwei Tage eingepackt. Sie würden Montagabend zurückkommen, hatte sie sich überlegt, wenn der Sturm vorüber war.
Kathy hatte das Radio im Minivan an und hörte, wie Bürgermeister Nagin seinen Aufruf wiederholte, die Stadt zu verlassen, aber ihr fiel auf, dass er nicht so weit ging, eine Zwangsevakuierung anzuordnen. Das würde ihren Mann in seiner Entscheidung bestärken, davon war sie überzeugt. Sie stellte einen anderen Sender ein, wo alle, die vorhatten, den Sturm in New Orleans auszusitzen, vor einer Überschwemmung gewarnt wurden. Deichbrüche seien nicht auszuschließen, hieß es. Sturmfluten könnten zu Überschwemmungen führen. Wasserstände von drei oder viereinhalb Metern wären möglich. Wer dennoch unbedingt zu Hause ausharren wollte, sollte eine Axt parat haben, damit er notfalls auf dem Speicher ein Loch schlagen könnte, um aufs Dach zu gelangen.
Zeitoun parkte den Transporter auf der Straße vor dem Haus. Kathy sah ihn näher kommen. Sie hatte nie an seiner Fähigkeit gezweifelt, sich in jeder Situation behelfen zu können, aber jetzt raste ihr Herz. Sie ließ ihn hier zurück, auf sich allein gestellt, mit einer Axt, um auf dem Speicher Löcher ins Dach zu schlagen? Das war Irrsinn.
Er und Kathy standen in der Einfahrt, wie schon so oft, wenn sie und die Kinder wegfuhren und er zu Hause blieb.
»Beeil dich lieber«, sagte Zeitoun. »Es brechen eine Menge Leute gleichzeitig auf.«
Kathy sah ihn an. Tränen traten ihr in die Augen, sehr zu ihrem eigenen Ärger. Zeitoun nahm ihre Hände.
»Na, na«, sagte er. »Es wird nichts passieren. Die Leute regen sich grundlos auf.«
»Bye, Daddy!«, trällerte Aisha vom Rücksitz.
Die Kinder winkten. Sie winkten immer, alle vier, wenn er in der Einfahrt zurückblieb. Nichts von alldem war neu. Sie hatten diese Situation schon x-mal erlebt: Kathy, die mit den Kindern wegfuhr, um irgendwo Schutz oder Erholung zu suchen, Zeitoun, der zurückblieb, um auf sein Haus und die Häuser der Nachbarn und Kunden in der ganzen Stadt aufzupassen. Er hatte Schlüssel von Dutzenden anderen Häusern; alle vertrauten ihm ihr Zuhause an, mit allem, was darin war.
»Bis Montag«, sagte er.
Kathy fuhr los, in dem Wissen, dass sie alle wahnsinnig waren. In so einer Stadt zu leben war Wahnsinn, zu fliehen war Wahnsinn, ihren Mann allein in einem Haus zu lassen, das in der Zugbahn eines Hurrikans lag, war Wahnsinn.
Sie winkte, ihre Kinder winkten, und Zeitoun stand in der Einfahrt und winkte, bis seine Familie fort war.
Zeitoun fuhr wieder los, um die restlichen Baustellen zu sichern. Ein leichter Wind wehte, der tief
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