Zeitoun (German Edition)
vergilbt und in einem schäbigen Rahmen, und er hielt inne. Das hatte er schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Sein Bruder Luay, seine Schwester Zakiya und er spielten mit ihrem achtzehn Jahre älteren Bruder Mohammed. Sie balgten sich mit ihm in dem Schlafzimmer, das Zeitoun und Ahmed und alle jüngeren Söhne sich in Dschabla geteilt hatten. Der kleine Abdulrahman war ganz rechts, vielleicht fünf Jahre alt, seine winzigen Finger verschwunden in Mohammeds riesiger Hand.
Zeitoun betrachtete das strahlende Lächeln seines Bruders. Damals hatte Mohammed alles. Er war alles, der berühmteste und erfolgreichste Sportler in der Geschichte Syriens. Er war ein Langstreckenhochseeschwimmer, einer der besten der Welt. Dass er aus einem Land kam, das nicht gerade für seine Küste bekannt war, machte seine Leistungen nur noch außergewöhnlicher. Er hatte Wettkämpfe in Syrien gewonnen, im Libanon und in Italien. Er konnte dreißig Meilen an einem Stück schwimmen, und das schneller als jeder andere. Schneller als jeder Italiener, Engländer, Franzose oder Grieche.
Zeitoun sah sich das Foto genauer an. Der arme Mohammed, dachte er, so belagert von seinen kleinen Geschwistern. Das hatten sie immer gemacht, wenn er bei ihnen war. Die Wettkämpfe – in Griechenland, Italien, den Vereinigten Staaten – hielten ihn viel zu lang von zu Hause fern. Er wurde von Staatschefs geehrt und in Zeitungen und Illustrierten auf der ganzen Welt gefeiert. Man nannte ihn den Menschlichen Torpedo, das Nilkrokodil, das Wunder. Wenn er dann zu Hause war, gerieten seine Geschwister völlig aus dem Häuschen, umschwärmten ihn wie Fliegen.
Und dann, mit vierundzwanzig Jahren, starb er. Kam bei einem Autounfall in Ägypten ums Leben, kurz vor einem Wettkampf im Suezkanal. Zeitoun vermisste ihn noch immer schrecklich, obwohl er erst sechs gewesen war, als es passierte. Danach kannte er Mohammed nur noch aus Geschichten und Nachrufen, von Fotos und dem Denkmal, das man ihm in Dschabla am Hafen, ganz in der Nähe von ihrem Haus, errichtet hatte. Während seiner Kindheit und Jugend musste er jeden Tag an dem Denkmal vorbei, was es ihm unmöglich machte, Mohammed auch nur für einen Augenblick zu vergessen.
Zeitoun saß da und starrte das Foto bestimmt eine Minute lang an, ehe er es zurück in den Karton legte.
Im Haus konnte er nicht schlafen. Diese Nacht war heißer, und in New Orleans hatte er diese Art von Hitze nie ohne Klimaanlage ausgehalten. Er lag auf durchgeschwitzten Laken, als ihm eine Idee kam. Er stand auf und suchte in einem der Schränke nach dem Zelt, das er vor ein paar Jahren gekauft hatte. Im letzten Sommer hatte er es im Garten aufgebaut, und die Kinder hatten draußen geschlafen, wenn die Hitze das zuließ.
Er fand das Zelt und kroch durch das Fenster in Nademahs Zimmer aufs Dach. Draußen war es kühler, ein leiser Wind teilte die stehende Luft. Das Garagendach war flach, und dort baute er das Zelt auf, sicherte es mit Büchern und ein paar Ziegelsteinen. Er zerrte eine Matratze der Kinder nach draußen und quetschte sie durch den Zelteingang. Der Unterschied war gewaltig.
Er legte sich hin und lauschte auf das Wasser. Stieg es noch weiter an? Es würde ihn nicht überraschen. Er wäre nicht schockiert, wenn die ganze Nachbarschaft am Morgen dreieinhalb bis vier Meter hoch unter Wasser stünde.
Die Dunkelheit um ihn herum war vollkommen, die Nacht still bis auf die Hunde. Zuerst waren es nur ein paar, dann immer mehr. Von überall her hörte er sie jaulen. In der Gegend hatten viele Leute Hunde, daher war er an ihr Gebell gewöhnt. Fast jede Nacht geriet einer von ihnen wegen irgendetwas in Aufregung und steckte die anderen mit seinem Gebell an, es folgte ein unrhythmisches Ruf-und-Antwort-Muster, das Stunden dauern konnte, ehe sie sich schließlich, einer nach dem anderen, beruhigten und verstummten. Aber in dieser Nacht war es anders. Die Hunde waren zurückgelassen worden und wussten das inzwischen auch. In ihren Rufen lag eine Fassungslosigkeit, ein Zorn, der die Nacht zerriss.
MITTWOCH , 31. AUGUST
Zeitoun erwachte bei Sonnenaufgang und kroch aus dem Zelt. Es war ein heller Morgen, und soweit er ringsum sehen konnte, stand die Stadt unter Wasser. Jeder Bewohner von New Orleans stellt sich schon mal eine Flutkatastrophe vor, weil er weiß, dass so etwas möglich ist in einer Stadt, die von Wasser und schlecht gebauten Deichen umgeben ist, doch dieser Anblick im ersten Tageslicht übertraf alles, was Zeitoun sich je
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