Zeitoun (German Edition)
hätte ausmalen können. Unwillkürlich dachte er an das Jüngste Gericht, an Noah und vierzig Tage Regen. Und dennoch war alles so ruhig, so still. Nichts rührte sich. Er saß auf dem Dach, suchte die Gegend ab, hielt Ausschau nach Menschen, Tieren oder irgendeiner Maschine in Bewegung. Nichts.
Als er seine Morgengebete verrichtete, durchbrach ein Hubschrauber die Stille, schoss über die Baumwipfel hinweg Richtung Stadtzentrum.
Zeitoun schaute vom Dach hinunter und stellte fest, dass das Wasser ungefähr so hoch stand wie am Vorabend. Einigermaßen erleichtert dachte er, dass es höchstwahrscheinlich so bleiben oder sogar ein paar Handbreit sinken würde, sobald der Wasserstand hier auf einer Höhe mit dem Pegel von Lake Pontchartrain war.
Zeitoun saß neben seinem Zelt und aß Frühstücksflocken, die er aus der Küche in Sicherheit gebracht hatte. Er wusste, auch wenn das Wasser nicht weiter stieg, gab es doch zu Hause nichts mehr zu tun. Er hatte alles gerettet, was gerettet werden konnte, und jetzt blieb ihm nichts weiter zu tun, als die Hände in den Schoß zu legen, bis das Wasser zurückging.
Nachdem er gegessen hatte, wurde er unruhig, fühlte sich wie in der Falle. Das Wasser stand zu hoch, um hindurchzuwaten, und da er nicht wusste, was alles darin herumtrieb, scheute er sich, einfach loszuschwimmen. Aber er hatte ja das Kanu. Er sah es im Garten dümpeln, am Haus angebunden. Zeitoun stand auf dem Dach seines überfluteten Hauses mitten in der zerstörten Stadt und hatte plötzlich so etwas wie eine Eingebung. Er stellte sich vor, wie er allein durch die Straßen der Stadt glitt. In gewisser Weise war das eine neue, noch unbekannte Welt. Er konnte ein Entdecker sein. Er konnte Dinge als Erster sehen.
Er kletterte an der Hauswand hinunter und ließ sich in das Kanu hinab. Er löste das Tau und fuhr los.
Er paddelte die Dart Street hinunter, wo das Wasser glatt und klar war. Und seltsamerweise wurde Zeitoun fast schlagartig ruhiger. Der Schaden an den Häusern war gewaltig, doch in seinem Herzen herrschte ein eigentümlicher Frieden. Obwohl so vieles zerstört war, lag eine beinahe hypnotische Stille über der Stadt.
Er glitt von seinem Haus weg, über Fahrräder und Autos, deren Antennen am Boden des Kanus entlangschabten. Jedes Fahrzeug, alt und neu, war unrettbar ruiniert. Zahlen füllten seinen Kopf: Hunderttausend Autos waren in der Flut untergegangen. Vielleicht noch mehr. Was würde damit passieren? Wer würde sie holen, wenn das Wasser zurückgegangen war? In welchem Loch sollten sie alle begraben werden?
Fast alle, die er kannte, hatten die Stadt für ein paar Tage verlassen und nur mit leichten Schäden gerechnet. Wenn er an ihren Häusern vorbeikam, von denen er so viele gestrichen und mitgebaut hatte, malte er sich aus, was in ihrem Innern alles zerstört war. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Schmerz das verursachen würde, und das machte ihm schwer zu schaffen. Niemand, so wusste er, war auch nur halbwegs angemessen auf das hier vorbereitet gewesen.
Er dachte an die Tiere. Die Eichhörnchen, Mäuse, Ratten, Frösche, Opossums, Eidechsen. Alle tot. Millionen ertrunkene Tiere. Nur Vögel konnten eine solche Apokalypse überleben. Vögel, einige Schlangenarten, überhaupt Tiere, die vor der steigenden Flut auf höheres Gelände flüchten konnten. Er hielt Ausschau nach Fischen. Falls das Wasser, auf dem er unterwegs war, aus dem Lake Pontchartrain kam, dann mussten Fische in die Stadt gespült worden sein. Und tatsächlich, wie aufs Stichwort sah er einen dunklen Schatten zwischen überflutete Baumzweige huschen.
Ihm fielen die Hunde ein. Er legte sich das Paddel quer auf den Schoß, ließ das Boot treiben, während er überlegte, von wo genau er in der Nacht das Hundejaulen gehört hatte.
Er hörte nichts.
Es löste widersprüchliche Gefühle in ihm aus, diese Version seiner Stadt zu sehen, eine gebrochene Version, in der die Häuser und Bäume durch diese seltsam stille Wasserfläche halbiert und gespiegelt wurden. Die Neuartigkeit dieser unbekannten Welt weckte den Entdecker in ihm – er wollte sich alles ansehen, die ganze Stadt, was aus ihr geworden war. Doch der Handwerker in ihm dachte an die Schäden, daran, wie lange es dauern würde, sie zu beheben. Jahre, vielleicht ein Jahrzehnt. Er fragte sich, ob die ganze Welt jetzt schon sehen konnte, was er sah, eine Katastrophe, deren Größe und Schwere mythische Dimensionen hatte.
In seinem Viertel, das meilenweit von dem
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