Zeitoun (German Edition)
viel zu frühen Todes eines so wunderbaren Menschen vieles infrage stellte. Aber er wusste, dass es falsch war, so zu denken, und dass es ohnehin nichts brachte. Ihm blieb nur, das Andenken seines Bruders zu ehren. Sei stark, sei tapfer, sei aufrecht. Halte aus. Sei so gut, wie Mohammed es war.
Zeitoun kroch in das Zelt zurück und sank in einen unruhigen Schlaf. Überall in der Nachbarschaft drehten die Hunde vor Hunger durch. Ihr Gebell war wild, haltlos, schraubte sich in die Höhe.
DONNERSTAG , 1. SEPTEMBER
Um sechs Uhr morgens hatte Kathy den Odyssey vollgepackt, und die Kinder saßen angeschnallt in ihren Sitzen. Ihre Schwestern schliefen noch, als sie leise rückwärts aus der Ausfahrt rollte und Baton Rouge verließ. Bis Phoenix waren es fünfzehnhundert Meilen.
»Lassen wir Mekay wirklich hier?«, fragte Nademah.
Selbst Kathy brachte es kaum über sich, aber was blieb ihnen anderes übrig? Sie hatte Patty angefleht, den Hund für eine Woche bei ihr lassen zu dürfen; sie hatte einem von Pattys halbwüchsigen Söhnen Hundefutter und Geld gegeben, damit er sich um die arme Mekay kümmerte. Es war besser, als sie in einem Zwinger unterzubringen, und weit besser, als sie den ganzen Weg bis nach Phoenix und wieder zurück mitzunehmen. Dafür hatte Kathy einfach nicht die Nerven. Schon mit vier Kindern war es anstrengend genug.
Sie hatten eine Autofahrt von mindestens drei Tagen vor sich – eher noch vier oder fünf. Warum tat sie das? Es war verrückt, vier Tage mit einem Auto voller Kinder zu fahren. Und diese Entscheidung ohne ihren Mann zu treffen! Es war lange her, dass sie in einer solchen Situation gesteckt hatte. Aber ihr blieb keine andere Wahl. Sie konnte nicht noch wer weiß wie viele Wochen in Baton Rouge bleiben, bis New Orleans wieder bewohnbar war. Sie hatte noch gar nicht über Schule nachgedacht, über Kleidung – sie hatten nur für zwei Tage gepackt –, geschweige denn darüber, wie sie finanziell über die Runden kommen sollten, solange der Betrieb ruhte.
Sie fuhr auf der I-10 Richtung Westen und empfand eine gewisse Erleichterung, weil sie wusste, dass sie auf der weiten Strecke zumindest genug Zeit zum Nachdenken haben würde.
Draußen auf dem Highway wählte sie die Nummer des Claiborne-Hauses. Es war zwar noch Stunden vor der vereinbarten Zeit, aber vielleicht war Zeitoun ja schon da und wartete nur darauf, sie anzurufen. Es klingelte dreimal.
»Hallo?«, sagte ein Mann. Es war die Stimme eines Amerikaners, nicht die ihres Mannes. Sie war schroff, unwirsch.
»Ist Abdulrahman Zeitoun da?«, fragte sie.
»Was? Wer?«
Sie wiederholte den Namen ihres Mannes.
»Nein, hier ist keiner, der so heißt.«
»Bin ich da richtig bei Claiborne 5010?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Kann schon sein«, sagte der Mann.
»Mit wem spreche ich?«, fragte sie.
Eine kurze Pause trat ein, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Kathy fuhr eine ganze Meile, ehe sie wieder halbwegs klar denken konnte. Wessen Stimme war das? Es war keiner der Mieter gewesen, die kannte sie alle. Es war ein Fremder, jemand, der irgendwie ins Haus gelangt war und jetzt dort ans Telefon ging. Wieder malte sie sich in Sekundenschnelle das Schlimmste aus. Hatte der Mann am Telefon ihren Mann getötet und das Haus ausgeraubt und sich darin eingenistet?
Sie fuhr auf den Parkplatz eines McDonald’s und versuchte sich zu beruhigen. Sie machte das Radio an, und fast augenblicklich kam ein Bericht über New Orleans. Sie wusste, sie sollte nicht hinhören, aber sie konnte nicht anders. Die Meldungen über gesetzlose Zustände wurden immer schlimmer, und Gouverneurin Blanco richtete an potenzielle Kriminelle die Warnung, dass kriegserfahrene US-Soldaten auf dem Weg nach New Orleans seien, um die Ordnung um jeden Preis wiederherzustellen. »Ich habe eine Botschaft an diese Plünderer«, sagte sie. »Diese Soldaten haben gelernt zu schießen, um zu töten, und sie sind absolut gewillt, das nötigenfalls auch zu tun, und ich gehe davon aus, dass sie es tun werden.«
Kathy wusste, sie sollte einen anderen Sender suchen, ehe die Kinder etwas mitbekamen, aber es war zu spät.
»Haben die gesagt, dass die Stadt überflutet ist, Mama?«
»Steht unser Haus unter Wasser?«
»Erschießen die Menschen, Mama?«
Kathy schaltete das Radio aus. »Bitte, Kinder, stellt mir keine Fragen.«
Sie riss sich zusammen und fuhr wieder auf den Highway, fest entschlossen, bis Phoenix durchzufahren. Sie musste nur zu Yuko kommen, dann ginge es
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