Zeitoun (German Edition)
im folgenden Jahr. Er hielt das Training vor seinem Vater geheim, auch dann noch, als er zwei Langstreckentests machte, einen zwischen Latakia und Dschabla und einen zweiten zwischen Dschabla und Baniyas. Doch wie nicht anders zu erwarten, kamen Mahmoud die Ambitionen seines Sohnes irgendwann zu Ohren, und aus Angst, die erbarmungslose See, die ihn selbst fast umgebracht hätte, würde ihm den Sohn rauben, verbot er ihm das Langstreckenschwimmen. Er wollte auch, dass Mohammed mit dem Fischen aufhörte, sich ganz vom Meer fernhielt. Er wollte, dass sein Sohn lebte.
Aber Mohammed konnte nicht aufhören. So schwer es ihm auch fiel, seinem Vater ungehorsam zu sein, er trainierte weiter. Ohne irgendjemanden in seiner Familie einzuweihen, nahm er im folgenden Jahr an dem Wettschwimmen teil. Als er in Latakia aus dem Wasser stieg, war der Jubel ohrenbetäubend. Er hatte mit Leichtigkeit gewonnen.
Noch ehe Mohammed nach Hause zurückkehren konnte, besuchte ein alter Freund Mahmouds, der selbst ein erfolgreicher Schwimmer war, die Familie Zeitoun und gratulierte Mahmoud zum Sieg seines Sohnes. So erfuhr Mahmoud, dass Mohammed Zeitoun der beste Schwimmer von ganz Syrien war.
Als Mohammed am Abend nach Hause kam, hatte Mahmoud seinen Widerstand aufgegeben. Wenn sein Sohn schwimmen wollte und wenn er dazu bestimmt war – wenn Gott ihn als Schwimmer erschaffen hatte –, dann konnte Mahmoud sich dem nicht in den Weg stellen. Er kaufte Mohammed eine Busfahrkarte nach Damaskus, wo er sich mit den besten Schwimmern in der Region messen und mit ihnen trainieren konnte.
Zeitoun entdeckte ein weiteres Foto. Seinen ersten großen Sieg errang Mohammed noch im selben Jahr, 1959, bei einem Rennen im Libanon. Das Starterfeld war groß und voller bekannter Namen, doch Mohammed kam nicht nur als Erster ins Ziel, sondern noch dazu in Rekordzeit: neun Stunden und fünfundfünfzig Minuten. Dieses Foto, so vermutete Zeitoun, war während der anschließenden Feier aufgenommen worden. Tausende waren zu sehen, wie sie seinem Bruder zujubelten.
Wie alt war Zeitoun damals gewesen? Er rechnete kurz nach. Gerade ein Jahr. Höchstens ein Jahr. An diese frühen Siege hatte er keinerlei Erinnerung.
Im Jahr darauf nahm Mohammed an dem berühmten Langstreckenschwimmen zwischen Capri und Neapel teil, das die besten Schwimmer der Welt anlockte. Der Favorit war Alfredo Camarero, ein Argentinier, der in den vergangenen fünf Jahren stets Erster oder Zweiter geworden war. Mohammed war völlig unbekannt, als das Rennen um sechs Uhr morgens begann, und als er acht Stunden später auf das Ufer zuschwamm, hatte er keine Ahnung, dass er in Führung lag. Erst als er aus dem Meer stieg und überraschte Schreie hörte und die Menge seinen Namen skandierte, wurde ihm klar, dass er gewonnen hatte. »Zeitoun der Araber hat gewonnen!«, jubelten die Zuschauer. Niemand konnte es glauben. Ein Syrer, der das bekannteste Langstreckenschwimmen der Welt gewann? Camarero erklärte allen, dass Mohammed der stärkste Schwimmer war, den er je gesehen hatte.
Mohammed widmete seinen Sieg Präsident Nasser. Im Gegenzug ernannte Nasser den zwanzigjährigen Mohammed zum Ehrenleutnant der Marine. Der Prinz von Kuwait hatte sich den Wettkampf angesehen und gab Mohammed zu Ehren ein Dinner in Neapel. Im Jahr darauf gewann Mohammed das Capri-Neapel-Rennen erneut, und diesmal unterbot er den von Camarero gehaltenen Rekord um fünfzehn Minuten. Jetzt war Mohammed unangefochten der beste Langstreckenschwimmer der Welt.
Als kleiner Junge war Abdulrahman voller Begeisterung und Stolz. In diesem Haus aufzuwachsen, mit einem solchen Bruder, sich Tag für Tag in dem Ruhm zu sonnen, den dieser der Familie beschert hatte – der Stolz der Geschwister auf Mohammed bestimmte, wie sie sich morgens beim Aufwachen fühlten, wie sie gingen und sprachen und in Dschabla und Arwad und überall sonst in Syrien wahrgenommen wurden. Es veränderte nachhaltig ihre Sicht auf die Welt. Mohammeds Leistungen bedeuteten – bewiesen im Grunde –, dass die Zeitouns außergewöhnlich waren. Danach oblag es jedem einzelnen Kind, diesem Erbe gerecht zu werden.
Einundvierzig Jahre waren seit Mohammeds Tod vergangen. Sein unglaublicher Aufstieg und sein früher Tod hatten die Lebenswege aller Zeitouns und insbesondere den von Abdulrahman geprägt, doch damit befasste er sich nicht gern. In weniger großzügigen Momenten hatte er das Gefühl, dass ihm sein Bruder gestohlen worden war, dass die Ungerechtigkeit des
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