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Zeitoun (German Edition)

Zeitoun (German Edition)

Titel: Zeitoun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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hinunter und gingen weiter über den Strand. Zeitoun hielt immer das gleiche Tempo. Er schwitzte kaum.
    »So nah, Kathy!«, sagte er und zeigte auf den Felsen in der Ferne, der immer noch nicht näher gekommen war.
    »Wir sollten umkehren«, sagte sie. »Was soll das überhaupt?«
    »Nein, nein, Kathy!«, sagte er. »Wir können nicht umkehren, solange wir ihn nicht berührt haben.« Und sie wusste, er würde darauf bestehen, dass auch sie das tat. Er wollte seine Familie stets bei all seinen Eskapaden dabeihaben.
    Zeitoun ließ keinerlei Anzeichen von Ermüdung erkennen. Er setzte Safiya, die inzwischen eingeschlafen war, von einem Arm auf den anderen und stapfte weiter.
    Insgesamt wanderten sie vier Stunden lang, durch drei Orte hindurch und fünfzehn Meilen den Strand hinunter, ehe sie endlich den Felsen erreichten.
    Er machte nicht viel her. Bloß ein dicker Gesteinsbrocken, der ins Meer ragte. Kathy lachte, und Zeitoun lachte auch. Sie verdrehte die Augen, und er lächelte sie spitzbübisch an. Er wusste, dass es absurd war.
    »Na los, Kathy, wir müssen den Felsen berühren«, sagte er.
    Sie gingen hin und kletterten rasch nach oben. Dort setzten sie sich ein paar Minuten hin, ruhten sich aus und beobachteten die Wellen, die unten gegen die Felsen brandeten. Und so lächerlich es ihr unterwegs auch vorgekommen war, Kathy fühlte sich gut. Sie hatte einen dickköpfigen Mann geheiratet, einen mitunter lächerlich sturen Mann. Mit seinem Glauben an Bestimmung konnte er sie auf die Palme bringen. Ganz gleich, was er sich in den Kopf setzte, und wenn es eine Schnapsidee war, wie irgendeinen meilenweit entfernten Felsen berühren zu müssen, sie wusste, er würde nicht eher ruhen, als bis er es getan hatte. Das konnte sie in den Wahnsinn treiben. Es war ihr sogar völlig unbegreiflich. Aber andererseits gab es ihrer Ehe eine gewisse epische Dimension, fand sie. Es war albern, so etwas zu denken, das wusste sie, aber sie waren auf einer Reise, die ihr manchmal tatsächlich großartig erschien. Sie war mit neun Geschwistern in einem Häuschen in Baton Rouge aufgewachsen, und jetzt hatten sie und ihr Mann vier wundervolle Kinder, waren in Spanien gewesen, in Syrien, und konnten anscheinend jedes Ziel erreichen, das sie sich setzten.
    »Komm schon, berühr ihn«, sagte er wieder.
    Sie saßen darauf, aber sie hatte ihn noch nicht offiziell berührt.
    Jetzt tat sie es. Er lächelte und nahm ihre Hand.
    »Schön hier, nicht?«, fragte er.
    Von da an war das ein Scherz zwischen ihnen. Jedes Mal,
wenn etwas zu schwierig schien und Kathy schon aufgeben
wollte, sagte Zeitoun: »Berühr den Felsen, Kathy! Berühr den Felsen!«
    Und dann lachten sie und fanden die Kraft weiterzumachen, zum Teil aus einer seltsamen Logik heraus: War aufgeben nicht absurder? War scheitern, umkehren nicht absurder als weiterzugehen?
    MONTAG , 19. SEPTEMBER
    Als Kathy erwachte, hatte sie eine neue Art von Ruhe erlangt. Sie fühlte sich stark und war bereit für neue Pläne. Sie war jetzt seit fast zwei Wochen wie gelähmt gewesen, während sie auf Nachricht von ihrem Mann wartete, aber das war Wahnsinn. Sie musste nach Hause, zu ihrem Haus auf der Dart Street. Auf einmal war sie sicher, dass sie ihren Mann dort finden würde. Seine Familie in Syrien hatte recht. Die größte Gefahr waren die Plündererbanden. Das machte am meisten Sinn. Je leerer die Stadt wurde, desto unverfrorener waren die Plünderer vermutlich geworden und hatten auch Gegenden wie die, in der sie wohnten, heimgesucht. Die Diebe waren in das Haus auf der Dart Street eingedrungen, waren überrascht gewesen, dort jemanden anzutreffen, und hatten ihren Mann getötet.
    Sie musste zurück nach New Orleans, musste irgendwie ein Boot mieten und in ihr Haus zurückkehren. Sie musste ihn sehen, wo auch immer er war. Sie musste ihn finden und beerdigen. Sie musste endlich einen Abschluss haben.
    Den ganzen Vormittag über empfand sie eine neue Klarheit. Es war Zeit, sich den Tatsachen zu stellen, die Hoffnung aufzugeben und sich mit dem auseinanderzusetzen, was als Nächstes kam.
    Gegen Mittag hörte Kathy, dass ein anderer Hurrikan mit Namen Rita auf New Orleans zuhielt. Bürgermeister Nagin, der vorgehabt hatte, die Stadt wieder zu öffnen, gab diesen Plan jetzt auf. Der Sturm, der über dem Golf Windgeschwindigkeiten von über 150 Meilen die Stunde erreichte, würde voraussichtlich am 21. September auf Land treffen. Selbst wenn es Kathy gelänge, in die Nähe von New Orleans zu kommen,

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