Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitoun (German Edition)

Zeitoun (German Edition)

Titel: Zeitoun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
Vom Netzwerk:
endlosen Stunden voller dunkler Gedanken stellte Kathy sich immer wieder vor, wo sie leben würde. Könnte sie in Arizona leben? Sie würde ein Haus in Yukos Nähe finden müssen. Ahmaad müsste ihren Kindern eine Vaterfigur sein. Kathy verließ sich jetzt schon so sehr auf Yuko und Ahmaad, sie konnte sich nicht vorstellen, ihnen dauerhaft ihre gesamte Familie zuzumuten.
    Sie dachte an Zeitouns Familie in Syrien. Dort gab es so ein dichtes soziales Netz, das feste Gefüge einer Großfamilie. Sie und Zeitoun waren 2003 mit den Kindern dort zu Besuch gewesen, und etwas Vergleichbares hatte sie noch nie erlebt. Zunächst einmal hatte es geschneit. Schnee in Damaskus! Sie waren mit dem Bus nach Norden bis Dschabla gefahren, und während der gesamten Fahrt hatte sie alles bestaunt, was sie sah. Später gab sie zu, dass sie ein antiquiertes Bild von Syrien gehabt hatte. Sie hatte sich Wüsten vorgestellt, Esel und Karren – nicht so viele pulsierende, kosmopolitische Städte, nicht so viele Mercedes- und BMW-Niederlassungen entlang der Landstraße nach Norden, nicht so viele Frauen in enger Kleidung und mit unbedecktem Haar. Aber es gab auch Überbleibsel eines weniger modernen Lebens – Händler, die am Straßenrand Sardinen und Kohl verkauften, primitive Häuser aus Ziegeln und Lehm. Die Straße nach Dschabla führte schon bald am Meer entlang, und sie kamen durch eine wunderschöne Küstengegend mit Bergen, die bis hinunter ins Meer abfielen, mit Moscheen, die hoch über der Straße am Hang klebten, Seite an Seite mit Kirchen, zahllosen Kirchen. Sie hatte Syrien für ein durch und durch muslimisches Land gehalten, aber darin hatte sie sich ebenso geirrt wie in vielem anderen. Es gefiel ihr, sich überraschen zu lassen und zu erkennen, dass Syrien in vielerlei Hinsicht ein rein mediterranes Land war: eng mit dem Meer verbunden, verliebt in gutes Essen und neue Ideen, beeinflusst von Griechenland, Italien und vielen anderen Kulturen. Kathy verleibte sich alles ein – frisches Gemüse und fangfrische Fische, Joghurt, Lammfleisch! Das Lammfleisch war das Beste, das sie je irgendwo gegessen hatte, und sie aß es, wann immer sich die Gelegenheit bot. In der wunderschönen Küstenstadt Dschabla sah sie sich die Häuser an, die Zeitouns Großvater gebaut hatte, sah das Denkmal seines Bruders Mohammed. Sie schliefen bei Kousay, Abdulrahmans ungemein lebensfrohem und geselligem Bruder, der noch im Elternhaus wohnte. Es war ein wunderbares altes Haus am Meer mit hohen Räumen und Fenstern, die immer offen standen, um die frische Meeresluft hereinzulassen. Rund herum lebten überall Verwandte, die man zu Fuß besuchen konnte, so viele Cousins und Cousinen, so viel Geschichte. Während Zeitoun in der Stadt unterwegs war und sich mit alten Freunden traf, kochte Kathy eines Nachmittags zusammen mit Zeitouns Schwester Fahzia. Dabei machte sie irgendetwas mit dem Propangas falsch und brannte beinahe die Küche ab. Es war beängstigend, als es passierte, sorgte aber in den Tagen danach allseits für große Erheiterung. Die Verwandten ihres Mannes waren solche liebenswerten Menschen, so gebildet, offen und gastfreundlich, ihre Häuser stets von Lachen erfüllt. Wäre es nicht vorstellbar, dass Kathy mit den Kindern dort leben könnte, in Dschabla? Es war eine radikale Idee, aber sie würde ihr Trost bringen, ein liebevolles Umfeld. Die Mädchen hätten dort so viele Verwandte um sich, dass sie den Verlust ihres Vaters vielleicht ein klein bisschen besser verkraften könnten.
    Zeitouns Familie in Syrien verlor zunehmend die Hoffnung und fand sich mehr und mehr mit dem Verlust von Abdulrahman ab. Es wurden so viele Leichen gefunden. Fast siebenhundert in New Orleans. Bestimmt war ihr Bruder darunter; etwas anderes zu glauben, wäre töricht. Jetzt wollten sie nur noch erfahren, wie er gestorben war, um innerlich Frieden schließen zu können mit dem Verlust. Sie wollten seinen Leichnam haben. Um ihn zu waschen, um ihn zu beerdigen.
    SAMSTAG, 17. SEPTEMBER
    Yuko hatte ihr verboten, fernzusehen oder ins Internet zu gehen, aber Kathy konnte es nicht lassen. Sie suchte nach dem Namen ihres Mannes. Sie suchte nach der Adresse ihres Hauses, ihres Betriebes. Sie suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt dafür, dass ihr Mann gefunden worden war.
    Sie fand nichts über ihn, dafür aber andere schreckliche Dinge. Überall im Netz stieß sie auf Meldungen über Gewalttätigkeiten und auf Hinweise darauf, dass sie übertrieben dargestellt wurden. Da war

Weitere Kostenlose Bücher