Zeitoun (German Edition)
würde die Natur sie wieder zurückdrängen.
Nademah kam ins Wohnzimmer.
»Sollen wir beten?«, fragte sie.
Kathy hätte beinahe Nein gesagt – sie betete ja nur noch –, aber sie wollte ihre Tochter nicht enttäuschen.
»Unbedingt. Komm.«
Und sie beteten auf dem Wohnzimmerboden. Hinterher gab sie Nademah einen Kuss auf die Stirn und schloss sie in die Arme. Ich werde so sehr auf dich angewiesen sein, dachte sie. Arme Demah, du hast ja keine Ahnung.
Und dann klingelte Kathys Handy. Sie ging ran. »Hallo?«
»Spreche ich mit Mrs Zeitoun?«, fragte ein Mann. Er wirkte nervös. Er sprach Zeitoun falsch aus. Kathys Magen verkrampfte sich. Es gelang ihr mit Mühe, Ja zu sagen.
»Ich habe Ihren Mann gesehen«, sagte die Stimme.
Kathy setzte sich. Ein Bild von seinem Körper, der im Dreck trieb –
»Es geht ihm gut«, sagte der Mann. »Er ist im Gefängnis. Ich bin Missionar. Ich war in Hunt, dem Gefängnis oben in St. Gabriel. Da ist er. Er hat mir Ihre Nummer gegeben.«
Kathy stellte ihm ein Dutzend Fragen in einem Atemzug.
»Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
Sie fragte ihn, wie sie Zeitoun erreichen könne, ob er gut versorgt werde –
»Hören Sie, eigentlich dürfte ich gar nicht mit Ihnen sprechen. Ich könnte Probleme kriegen. Es geht ihm gut, er ist in Hunt. Das ist alles, ich muss jetzt Schluss machen.«
Und er legte auf.
IV
DIENSTAG , 6. SEPTEMBER
Zeitoun genoss das kühle Wasser seiner ersten Dusche seit über einer Woche. Er wusste, dass die Wasserversorgung jederzeit unterbrochen werden konnte, also ließ er sich etwas mehr Zeit als eigentlich nötig.
Aber er war entschlossen zu gehen. Die Wohnviertel wurden immer leerer, bald würde niemand mehr da sein, der Hilfe brauchte, und es würde auch kaum noch etwas zu sehen geben. Er überlegte, wann und wie er die Stadt verlassen sollte. Vielleicht in ein paar Tagen. Er könnte die Beamten und Hilfskräfte an der Kreuzung Napoleon und St. Charles fragen, wie er wegkommen könnte. Er müsste nur irgendwie zum Flughafen gelangen, entweder in New Orleans oder in Baton Rouge, und von dort würde er nach Phoenix fliegen. Es gab hier nicht mehr viel zu tun, seine Lebensmittelvorräte gingen zur Neige, und er vermisste Kathy und die Kinder. Es wurde Zeit.
Er ging nach unten.
»Das Bad ist jetzt frei«, sagte er zu Nasser.
Zeitoun rief seinen Bruder Ahmad in Spanien an.
»Ist dir eigentlich klar, was für Bilder wir hier in den Nachrichten sehen?«, fragte Ahmad.
Während sie noch miteinander sprachen, hörte er Nassers Stimme auf der Veranda. Er redete mit irgendjemandem vor dem Haus.
»Zeitoun!«, rief Nasser.
»Was ist?«, sagte Zeitoun.
»Komm mal her«, sagte Nasser. »Die Männer hier wollen wissen, ob wir Wasser brauchen.«
Zeitoun legte auf und ging zur Tür.
Die Männer kamen Zeitoun schon in der Diele entgegen. Sie trugen zusammengewürfelte Polizei- und Militäruniformen. Tarnanzüge. Kugelsichere Westen. Die meisten trugen Sonnenbrillen. Alle hatten M-16-Gewehre und Pistolen. Sie drängten sich rasch in den Flur. Mindestens zehn Schusswaffen waren zu sehen.
»Wer sind Sie?«, fragte einer von ihnen.
»Ich bin der Vermieter. Mir gehört das Haus«, sagte Zeitoun.
Jetzt sah er, dass sie zu sechst waren – fünf weiße Männer und eine afroamerikanische Frau. Unter den Westen waren ihre Uniformen nicht genau zu erkennen. Gehörten sie zur örtlichen Polizei? Die Frau, sehr groß, trug einen Tarnanzug. Wahrscheinlich gehörte sie zur Nationalgarde. Sie sahen sich im Haus um, als bekämen sie ein Gebäude, das sie lange aus der Ferne beobachtet hatten, nun endlich von innen zu sehen. Sie waren alle angespannt, hatten den Finger am Abzug. Einer der Uniformierten war im Flur gerade dabei, Ronnie abzutasten. Ein anderer hatte Nasser an die Wand neben der Treppe gedrängt.
»Können Sie sich ausweisen?«, sagte einer der Männer zu Zeitoun.
Zeitoun holte seinen Führerschein hervor. Der Mann nahm den Führerschein und gab ihn Zeitoun zurück, ohne einen Blick darauf zu werfen.
»Steigen Sie ins Boot«, sagte er.
»Sie haben ihn sich gar nicht angesehen«, protestierte Zeitoun.
»Bewegung!«, blaffte ein anderer.
Zeitoun wurde Richtung Haustür gestoßen. Die anderen Uniformierten hatten Ronnie und Nasser bereits auf ein riesiges Propellerboot bugsiert. Es war ein Militärboot, weit größer als alle, die Zeitoun seit dem Sturm gesehen hatte. Mindestens zwei Uniformierte hielten
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