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Zeitoun (German Edition)

Zeitoun (German Edition)

Titel: Zeitoun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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waren nur schwer bewaffnete Männer und Frauen, Hunderte Kartons mit Wasserflaschen und anderen Vorräten, die sich auf den Gängen stapelten, und Zeitoun und seine Mitgefangenen.
    Todd diskutierte mit den Männern, die ihn vernahmen. Zeitoun hörte, wie er sich beschwerte, während die Befragung am Amtrak-Schalter andauerte. Todd war von Natur aus ein Hitzkopf, daher überraschte es Zeitoun nicht, dass er sich aufregte.
    »Dürfen wir jemanden anrufen?«, fragte Todd.
    »Nein«, sagte der Polizist.
    »Wir haben das Recht, jemanden anzurufen.«
    Keine Antwort.
    Todd wurde lauter, verdrehte die Augen. Die Soldaten um ihn herum traten näher, schnauzten Anweisungen und Drohungen.
    »Warum sind wir hier?«, fragte er einen Soldaten, der gerade vorbeikam.
    »Ihr seid al-Qaida-Leute«, sagte der Soldat.
    Todd lachte verächtlich auf, aber Zeitoun war bestürzt. Er musste sich verhört haben.
    Zeitoun hatte schon lange befürchtet, dass dieser Tag kommen würde. In den wenigen Situationen, als er wegen eines Verkehrsdeliktes angehalten worden war, hatte er nie ganz ausgeschlossen, möglicherweise schikaniert, missverstanden oder irgendwelcher düsteren Machenschaften beschuldigt zu werden, die der Einbildung des jeweiligen Polizeibeamten entsprangen. Ihm und Kathy war klar, dass seit dem 11. September mit vielen Menschen die Fantasie durchgegangen war und dass die verbreitete Vorstellung von »Schläferzellen« – Gruppen von potenziellen Terroristen, die in den USA lebten und jahre- oder jahrzehntelang abwarteten, bevor sie zuschlugen – nichts anderes unterstellte, als dass manch einer in ihrer Moschee oder gar die gesamte Moschee nur auf Anweisungen von ihren vermeintlichen Anführern in den Bergen von Afghanistan oder Pakistan wartete.
    Er und Kathy fürchteten die Macht des Heimatschutzministeriums, dessen Bereitschaft, zu jedem Kontakt aufzunehmen, der aus dem Nahen Osten stammte oder Verbindungen dorthin hatte. So viele ihrer muslimischen Freunde waren verhört worden, waren gezwungen worden, Unterlagen vorzulegen und sich Anwälte zu nehmen. Doch bislang hatte Zeitoun Glück gehabt. Er hatte noch nichts Derartiges erlebt, und niemand mit wirklicher Machtbefugnis hatte ihm jemals etwas zur Last gelegt. Natürlich gab es gelegentlich schiefe Blicke und spöttische Reaktionen von Leuten, wenn sie seinen Akzent hörten. Aber vielleicht, so dachte er, war der Soldat ein Einzelfall, vielleicht war er nur dumm oder boshaft und wollte die Situation ein bisschen aufmischen. Zeitoun beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
    Dennoch, Zeitouns Instinkte waren geweckt. Er suchte die Halle nach weiteren Anzeichen ab. Er und die drei anderen wurden noch immer von Dutzenden Soldaten und Polizisten bewacht. Er kam sich vor wie ein exotisches Tier, eine Jagdbeute.
    Kurz darauf ging ein anderer Soldat vorbei, warf Zeitoun einen Blick zu und knurrte: »Taliban.«
    Und sosehr er die beiden Kommentare auch ausblenden wollte, er konnte es nicht. Jetzt war er sicher, dass hier ein gravierendes Missverständnis vorlag und dass es Tage dauern würde, es klarzustellen, es zu widerlegen. Todd schimpfte und tobte, aber Zeitoun wusste, dass das nichts bringen würde. Die Frage nach ihrer Schuld oder Unschuld würde nicht hier an diesem Ort beantwortet werden und auch nicht in absehbarer Zeit.
    Er lehnte sich zurück und wartete.
    Vor ihnen lag eine Nische mit einer Reihe von Verkaufsautomaten und Videospielen. Über den Geräten war ein riesiges Wandbild, das die gesamte obere Hälfte der Halle einnahm und sich in vier langen Abschnitten ringsum über alle Wände erstreckte.
    Insgesamt war das Wandbild etwa fünfunddreißig Meter lang und stellte die gesamte Geschichte der Vereinigten Staaten im Allgemeinen und die des Staates Louisiana im Besonderen dar. Zeitoun blickte zu dem Bild hoch, das er noch nie wahrgenommen hatte, obwohl er schon öfter in der Halle gewesen war. Jetzt, da er es betrachtete, fand er es erschreckend, eine dunkle Aneinanderreihung von Unterwerfungen und Kämpfen. Die Farben waren albtraumhaft, die Linien gezackt, die Szenen verstörend. Er sah Ku-Klux-Klan-Kapuzen, Skelette, Harlekine in grellen Farben, bemalte Gesichter. Direkt über ihm wurde ein Löwe von einem gewaltigen goldenen Adler angegriffen. Auf einigen Bildern zogen blau uniformierte Soldaten in den Krieg, direkt neben Massengräbern. Viele Darstellungen thematisierten die Unterdrückung oder Ausrottung von Menschen – amerikanische Ureinwohner,

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