Zeitriss: Thriller (German Edition)
viele diese unglaubliche Fähigkeit bei ihm bezeugen können. Einer meiner Hausdiener behauptet, es mit eigenen Augen gesehen zu haben.«
»Chinesische Taschenspielertricks«, meinte Sir Claude.
»Wie dem auch sei«, sagte Wilson, »die Pekinger sind unruhig. General Gaselee rät Ihnen, unverzüglich alle Ausländer in die Gesandtschaften zu bringen und außerdem alle unbedeutenden Tore des Gesandtschaftsviertels anständig zu blockieren und die militärische Verteidigung zu verstärken.«
Sir Claude hob seine Bruyèrepfeife an die Lippen, und ein Diener riss augenblicklich ein Streichholz an und zündete sie ihm an. Durch die aufsteigenden Rauchwölkchen sagte er: »Ich werde das mit den übrigen Botschaftern besprechen. Wissen Sie, das amüsanteste Ereignis heute war, dass die Russen – fünfundsiebzig haben Sie mitgebracht, wie ich höre – versehentlich ihren Neunpfünder in Tientsin gelassen haben, diese Idioten! Es freut mich aber, dass sie wenigstens an die Munition gedacht haben. Sie haben die Kisten den ganzen Weg hierher geschleppt. Doch leider haben wir jetzt kein einziges Geschütz für die Granaten! Das ist wirklich ein Witz!«
Conger musste unwillkürlich grinsen und verkniff es sich erst, als er Wilsons ernstes Gesicht sah. »Ich habe fünfundzwanzig zusätzliche Männer abgestellt, die unsere Botschaft Tag und Nacht bewachen. Ich habe auch die Gatling im Vorhof aufstellen lassen, die die Seesoldaten mitgebracht haben.«
»Ich bitte Sie, meine Herren!«, rief Sir Claude gut gelaunt aus. »Unsere Sorgen sind beseitigt! Die Krise ist abgewendet, und weitere Hilfe ist unterwegs. Dem Brief zufolge marschiert Admiral Seymour in diesem Moment mit zweitausend Mann und Nachschub gegen Peking, um unsere Lage zu verbessern. Die Chinesen wissen das und werden es nicht wagen, uns anzugreifen. Und Sie müssen bedenken, Mr. Dowling, die kaiserliche Garde ist auch hier, um uns zu schützen.«
»Die werden uns nicht verteidigen kommen«, widersprach Wilson nachdenklich. »Kaiser Kuang Hsu wurde abgesetzt, und die Kaiserinwitwe ist wieder an der Macht.«
»Sie wurde seit über zwanzig Jahren nicht gesehen!«, erwiderte Sir Claude selbstgefällig. »Sie versteckt sich hinter dem gelben Seidenvorhang. Die alte Frau würde es nicht wagen, uns die Stirn zu bieten.«
»Hören Sie auf mich, Exzellenz«, sagte Wilson. »Die Kaiserinwitwe wird uns keine Hilfe gewähren, wenn die Boxer angreifen. Das Außenministerium hat dieselbe Haltung zu verstehen gegeben. Wir sind auf uns allein gestellt und müssen wachsam sein. Wenn die Boxer die Mauer dieses Viertels durchbrechen, werden Sie Ihre Familie sterben sehen.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, schnaubte der Botschafter.
»Die Lage wird immer brisanter«, warnte Wilson. »Sie müssen auf alles gefasst sein. Bis Morgen vor Sonnenuntergang werden alle Bediensteten, die für westliche Ausländer arbeiten, kleine schwarz-rote Kärtchen bekommen haben, die ihnen sagen, dass sie Folter und Tod erwarten, wenn sie weiter für die fremden Teufel arbeiten.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Conger.
Da Wilson die Frage erwartet hatte, antwortete er ohne Zögern: »Weil ich von meinen Spitzeln in China Nachricht erhalten habe. Die Lage spitzt sich zu.«
Sir Claude stieß eine Rauchwolke aus. »Ich glaube, das Schlimmste haben wir hinter uns«, beharrte er zuversichtlich. »Wie Conger schon sagte: Sie übertreiben. Unsere militärische Position ist so stark wie nie. Und wie Admiral Seymour schreibt, ist er in knapp zwei Wochen hier mit den neuesten Geschützen und den bestausgebildeten Soldaten, um die Souveränität der Gesandtschaften zu schützen.«
»Der Hass der Boxer ist nicht zu unterschätzen«, hielt Wilson ihm entgegen. »Und auch nicht die Größe ihrer Streitmacht. Sie haben zwanzig Jahre mit Dürren, Überschwemmungen, Hunger und Seuchen hinter sich – und uns geben sie die Schuld daran. In der ganzen Stadt, in ganz China hängen Plakate, auf denen steht, dass die Abendländer das Blut der Chinesen trinken und dass ihre Eisenbahnen die Geister der Erde beleidigt haben. Darum gebe es die Dürren, und darum sei ihr Lebensunterhalt vernichtet worden.«
»Aber das ist doch gar nicht wahr!«, dröhnte Sir Claude. »Diese Leute sind dumm. Wissen Sie, ich lebe hier schon über fünf Jahre und bin noch keinem Chinesen begegnet, der sich mit einem Briten vergleichen ließe.«
»Sie sollten Ihre Haltung ändern«, riet Wilson mit durchdringendem Blick.
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