Zeitriss: Thriller (German Edition)
detaillierten Schlachtplan in einem versiegelten Umschlag überreicht hatte, informierte er den Kommandeur der alliierten Verbände, dass der Brief erst geöffnet werden dürfe, wenn die Nachricht vom tragischen Tod des Barons eingetroffen sei.
Mit der Erfüllung seines Schicksals wäre die Geschichte wieder im rechten Gleis. Wilson war stark beunruhigt, da Seymours Einsatztruppen entgegen den Angaben im Auftragstext Peking in der Woche zuvor nicht erreicht hatten. Boxerverbände hatten die Eisenbahnlinie zwischen Tientsin und Peking unterbrochen und Seymours Vormarsch aufgehalten. Mit der Lokomotive im Rückwärtsgang hatte er den Rückzug versucht, doch die Boxer sprengten hinter ihm die Schienen. Später erfuhr man, dass Seymour unter schweren Angriffen der gut bewaffneten Boxer gezwungen gewesen war, zu Fuß bis zum Peiho zu fliehen. Er bekam darauf den Spitznamen Admiral Seen-no-more, was so viel hieß wie: Wurde-nicht-mehr-gesehen.
Nach dem Auftragstext, den Wilson gelesen hatte, sollte Seymour dringend benötigte Soldaten und Nachschub bringen; insofern waren die Ereignisse alarmierend abgewichen. Wilson forschte nach und erfuhr, dass Sir Claude sich Seymours Truppenzahlen und seine Ankunftszeit hatte telegrafieren lassen, damit er für Unterkunft und Verpflegung sorgen könne. Die Nachricht musste von den Boxern abgehört worden sein.
Diese unverforene Missachtung seiner Empfehlungen trübte seine Beziehung zu dem Botschafter. Als Konsequenz ließ Wilson den Telegrafen entfernen und Edwin Conger zur Aufbewahrung geben. Der Amerikaner verstand wenigstens den Ernst der Lage und schwor, ihn nur strategisch zur Irreführung des Gegners zu benutzen.
Sir Claude tobte, als er feststellte, was Wilson getan hatte, und es kam zu einem lautstarken Streit, der von Edwin Conger und George Morrison, einem australischen Journalisten der Times , geschlichtet werden musste.
Von dem scharfsinnigen Morrison war Wilson besonders angetan. Sein Landsmann war siebenunddreißig Jahre alt, sprach fließend Mandarin, kannte jeden und schien mehr um das Wohlergehen der christlichen Chinesen besorgt zu sein als um alle anderen, denn er benutzte seinen ganzen Einfluss, damit sie im Gesandtschaftsviertel Zuflucht erhielten. Sein lebhafter Verstand war eine Wohltat, und Wilson musste zugeben, dass er seine Gesellschaft selbst unter diesen düsteren Umständen genoss.
Seit über einer Woche konnte man die Boxer nachts »Sha! Sha! Sha!« schreien hören – »Töte! Töte! Töte!«. Unnötig zu sagen, dass dies für jeden zermürbend war. Dennoch war mit dem Ausbau der Verteidigungsanlagen erst vor vier Tagen begonnen worden, als furchtbare Schreie durch die Tatarenstadt gellten. Die Boxer jagten und erschlugen jeden Chinesen, der mit den Ausländern in Verbindung stand, metzelten sie auf der Straße nieder, hackten sie brutal in Stücke. Was von ihnen übrig war, warfen sie in die Gesandtschaftsstraße, damit sie in der Sonne verwesten und von den Mauern der Botschaften von allen gesehen wurden.
Vor drei Tagen hatten die Boxer angefangen, Häuser und Läden in Brand zu stecken, die mit den Abendländern in Verbindung gebracht werden konnten. Über der Stadt konnte man Hunderte Brände lodern sehen, die gelbroten Flammen züngelten in den Nachthimmel. Auch die amerikanischen Missionen und Waisenhäuser brannten, desgleichen die Kirchen. Alle Waisen und die Nonnen, die die Kinder zu schützen versuchten, wurden gnadenlos niedergestochen.
George Morrison schilderte voller Entsetzen, was er gesehen hatte, während er mit einigen Royal Marines unterwegs gewesen war, um ein paar verstreute chinesische Christen zu retten. »Frauen und Kinder wurden in Stücke gehauen, Männer aufgehängt wie Federvieh, nachdem man ihnen Nase und Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen hatte. Es war grauenvoll.«
Wilson schämte sich, zur Menschheit zu gehören, als er sich anhörte, was die Boxer ihren Landsleuten antaten, ganz zu schweigen von den Gräueln gegen Frauen und Kinder.
Das hat Randall zu verantworten, wurde Wilson klar, während er die Schreie der Vergewaltigten und Gefolterten mit anhörte. Er wurde jeden Augenblick wütender, so sehr er sich auch zwang, ruhig zu bleiben.
Zwei Tage zuvor hatte das Außenministerium an jeden Botschafter einen roten Umschlag geschickt. Darin hieß es, allen Ausländern werde sicheres Geleit nach Taku gewährt, wenn sie die Waffen abgeben und Peking innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlassen
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